Editorial Keine halbherzige Politik auf dem Rücken der Sportler

Liebe stern-Leser!

Dürfen die Olympischen Sommerspiele in einem Land stattfinden, das die Menschenrechte massiv verletzt, politische und religiöse Minderheiten brutal unterdrückt und kaum Meinungsfreiheit zulässt? Das hätte man sich schon 2001 besser überlegen müssen, als die Entscheidung für Peking fiel (und gegen Paris, Toronto, Osaka und Istanbul). Damals war die Situation in China nicht anders als heute, nur wog die Hoffnung auf positive Veränderungen mehr als der Zweifel vieler Menschenrechtler. Jetzt aber würde ein Boykott bedeuten, Politik auf dem Rücken der Sportler zu machen, während ansonsten die Geschäfte prima weiterlaufen. Es gibt genug andere Möglichkeiten, Druck auf China auszuüben: Wenn Staatschefs wie Horst Köhler oder Nicolas Sarkozy der pompösen Eröffnungsfeier am 8. August fernbleiben, ist das ein klares Signal und bedeutet für die kommunistischen Machthaber großen Gesichtsverlust. Und noch mehr fürchten sie, dass Tausende Journalisten einreisen und dann weniger über Olympia berichten werden als über Unterdrückung, Todesstrafen, Zensur und Umweltverschmutzung.

Der stern beginnt seine Titelgeschichte mit einer großen Fotoreportage, die China als Land der Superlative zeigt, im Positiven wie im Negativen: Es ist mit 1,3 Milliarden Einwohnern das bevölkerungsreichste Land der Erde, jeder fünfte Mensch lebt dort. Mittlerweile gibt es über hundert Städte mit mehr als einer Million Einwohner, aber wir kennen außer Peking und Shanghai kaum welche mit Namen. Lange Zeit war China für uns nur ein Produzent von billigem Spielzeug und schlecht kopierten Markenartikeln. Doch seit der Hunger der Chinesen nach Erdöl, Stahl und Aluminium die Rohstoffpreise auch bei uns in die Höhe treibt, wächst die Furcht vor dem Giganten im Fernen Osten. Mit Devisenreserven in Höhe von 1500 Milliarden Dollar - siebenmal mehr, als die gesamte Euro-Zone hat - könnte China die Weltwirtschaft jederzeit aus den Angeln heben. Schon heute gehört das Land zu den größten Schadstoff-Emittenten. Mit 2,3 Millionen Soldaten hat der Atomstaat China die größte Armee der Welt unter Waffen. Und nirgendwo werden mehr Menschen hingerichtet als im Reich der Mitte: Schätzungen reichen von 1000 bis 8000 Menschen im Jahr.

So unheimlich das Bild dieser neuen Weltmacht ist - noch fremder erscheint uns ihre Geschichte. Bis auf die Große Mauer, die Terrakotta-Armee und die Ming-Vasen ist die Vergangenheit für viele eine prachtvolle, aber schwer durchschaubare Abfolge von Kaisern und Kriegen. In einer siebenteiligen Serie erzählt der stern, wie China in fast 2500 Jahren zur Weltmacht aufstieg. Das Wissen über Chinas Vergangenheit ist nicht nur hilfreich beim Verständnis der Gegenwart, die Serie ist vor allem eine Reise in eine faszinierende Welt von Eunuchen und Mandarinen, in einen Kosmos technischer Höchstleistungen und niederster Intrigen. Der erste Teil "Ein Reich entsteht" beginnt auf Seite 51.

Herzlichst Ihr
Thomas Osterkorn

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