Ein Einblick in den Berliner Reformstudiengang Medizin
Es ist Montag früh, und ich stehe leicht fröstelnd auf dem Lehrter Stadtbahnhof in Berlin Mitte, bereit für die allwöchentliche POL-Sitzung des Reformstudienganges Medizin an der Humboldt Universität Berlin. POL, das heißt »Problem Orientiertes Lernen« und ist die zentrale Lernform, die diesen Studiengang von seinen konventionellen Pendants unterscheidet.
Ines Lange, 21 Jahre alt und Medizinstudentin im dritten Semester, hat sich sofort einverstanden erklärt, als ich sie bat, mich mitzunehmen. Und so gelange ich in eines der nahe gelegenen Charitégebäude, um an diesem Tag die Bekanntschaft mit Dr. med. Heinz Hitzig und seinen Beschwerden zu machen. Die POL-Gruppen treffen sich jeden ersten Tag in der Woche, um ihren »Paper Case« zu besprechen und mit dessen Hilfe ihre genauen Lerninhalte abzustecken. Doch bevor Heinz Hitzig und seine »Virusinfektion« auf den Plan treten, wird geprüft, ob noch Fragen von der vergangenen Woche bestehen. Da es keinerlei Klärungsbedarf gibt, teilt der Dozent die Kopien mit dem neuen »Fall« aus: Heinz Hitzig, der trotz einer fiebrigen Infektion unbedingt an einem Kongress teilnehmen will. Die Fallbeschreibung gibt noch Einzelheiten des Krankheitsverlaufs wieder.
Die Arbeit der Studenten beginnt mit einem Brainstorming. Es wird alles gesammelt, was an Heinz Hitzigs Fall interessant erscheint. Die gegebenen Informationen notiert ein Gruppenmitglied auf einem Flipchart. Darauf folgt eine Phase, in der die Studenten in Ruhe aufschreiben, was sie für diskussionswürdig halten oder wissen möchten. Jeder in der kleinen Runde, die sich um einen Tisch versammelt hat, trägt seinen Teil dazu bei. Ein Klima, wie ich es aus keiner meiner eigenen Lehrveranstaltungen kenne. Oft wird zwischendurch herzlich gelacht, wenn der eine oder die andere persönliche Erfahrungen zu so beliebten Themen wie dem »Wadenwickeleinsatz zur Fieberlinderung« zum Besten gibt. Doch die Gruppe kommt schnell wieder auf ihr eigentliches Problem zurück. Der zu bearbeitende Beispielfall gerät nicht in Vergessenheit. Mit großem Wissensdurst und Akribie wird aufgeschrieben, was später die Grundlage der so genannten »Lernziele« bildet. Diese werden die Studenten die Woche über bearbeiten. Die Themenauswahl geschieht durch die Studenten selbst. Vorher haben sie jedoch Zeit, dem Dozenten über ihren Fall »Löcher in den Bauch zu fragen«. Der Dozent, der zumeist nur moderierend eingreift, hält begehrte Hintergrundinformationen bereit.
Heinz Hitzig ist ein Fall des Themenblockes »Entzündung/Abwehr«. Er bringt die Gruppenmitglieder auf viele interessante Fragen, die zum allgemeinen Bedauern nicht alle bearbeitet werden können. Denn zu dieser Form des selbstständigen Arbeitens gehört auch, dass die Studenten herausfinden, was sie innerhalb der Woche an Lerninhalten bewältigen können. Dies gipfelt nicht in laxen Lesestündchen, sondern ist oftmals ein gehöriges bis zu hohes inhaltliches Pensum. In diesen Momenten ist es die Aufgabe des Dozenten, darauf hinzuweisen, dass Inhalte enger abgegrenzt werden müssen. Überhaupt ist ein hohes Maß an eigenständiger Arbeit etwas, mit dem die Studenten von Anfang an konfrontiert wurden, als sie als erster Jahrgang des lange vorbereiteten Projektes im Wintersemester 1999/2000 an der Humboldt Universität Berlin begannen. Den herkömmlichen Lehrveranstaltungstyp »Vorlesung« kennen diese Studenten nicht.
Der in Deutschland bisher einmalige Versuch, ein Medizinstudium mit mehr Praxisnähe zu schaffen, wurde möglich, als Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer die Approbationsordnung von 1970 änderte und Möglichkeiten der Reform schuf. Was als Idee während der Studentenstreiks im Winter 88/89 begann und jahrelang durch engagierte Mediziner weiterentwickelt wurde, konnte letztlich eingeführt werden. Das Projekt unterliegt jedoch ständiger Kontrolle. Die Studenten überprüfen jedes Semester ihren Wissensschatz in so genannten Progresstests, die dann mit denen von Studenten des Regelstudiengangs verglichen werden. Doch das nehmen sie gerne in Kauf angesichts der ungewöhnlich guten Studienbedingungen, die ihnen geboten werden. Auch der Praxistag, den alle Reformstudenten pro Woche bei einem Allgemeinmediziner leisten, hilft, von Anfang an den Kontakt zu Patienten herzustellen und die Praxisrealität kennen zu lernen.
Der Reformstudiengang ist längst nicht kritiklos geblieben. Auch viele Mediziner halten sich nicht mit Vorurteilen wie zum Beispiel »Barfußmediziner« zurück. Die erfolgreichen Vorbilder der Universitäten in Harvard, Maastricht, Linköping und der kanadischen McMaster-Universität sprechen für den Versuch. Und die offensichtliche Freude, mit der die Studenten studieren. (kl)