Liebe Frau Peirano,
ich, Student, 23, leide schon seit zwei Jahren unter starken Ängsten. Ich war in der Corona-Krise sehr viel allein und da hat sich mein Kopf-Karussel gedreht. Seit ein paar Monaten habe ich die Hoffnung, dass die Pandemie nicht mehr so dramatisch ist wegen der Omikron-Variante. Und ich wollte gerade wieder mehr mit Freunden unternehmen, wieder Handball spielen und reisen.
Und jetzt kommt gleich das nächste Problem: Der Ukraine-Krieg. Ich kann kaum mit Freunden darüber sprechen. Neulich saßen wir zusammen und es war die Rede von einem Atomkrieg, von einer totalen Energie- und Wirtschaftskrise, von Krieg in Europa. Ich bin grundsätzlich sehr sensibel und habe auch viel Mitleid mit den Menschen in der Ukraine. Ich grüble darüber nach, wie ich helfen kann und fühle mich schuldig, weil ich nichts machen kann.
Ich sehe jede Nachrichtensendung zum Thema Ukraine-Krieg, weil ich wissen will, was los ist. Ich kann das nicht mehr lassen. Aber nachts träume ich schlecht, werde verfolgt und wache schreiend auf, oder ich liege wach und kann nicht mehr einschlafen.
Einen Therapieplatz kann ich so schnell nicht finden. Ich stehe auf einigen Wartelisten, aber es kann noch Monate dauern.
Ich muss aber etwas tun, bevor meine Angst noch stärker wird. Es kostet mich so schon sehr viel Kraft. Einige meiner Freunde sagen mir auch, dass ich mich da reinsteigere und dringend was für mich tun muss.
Was raten Sie mir?
Philipp T.
Lieber Philipp T.,
es wird Ihnen wahrscheinlich nicht sehr helfen, aber ich möchte sagen, dass sehr viele Menschen im Moment sehr dünnhäutig und belastet sind von der Ukraine-Krise (mit allen furchtbaren und bedrohlichen Aspekten). Insbesondere nachdem unsere gewohnte Ordnung und Sicherheit seit nunmehr zwei Jahren durch die Corona-Epidemie durcheinander geraten ist und wir zwischendurch keinen Moment hatten, um unsere Normalität zu genießen, durchzuatmen und Kraft zu tanken. Das löst in vielen von uns große Sorgen und Ängste aus, und viele fragen sich: "Wird das jetzt ewig so weitergehen mit den Katastrophen?"

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe
Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben.
Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.
Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.
Bei Ihnen wirkt es so, als wenn Sie sehr stark auf die äußeren Bedrohungen reagieren, und deshalb ist es schützend, dass Sie jetzt wahrnehmen, dass Sie Hilfe brauchen. Grundsätzlich muss jede*r Einzelne sich im Moment Strategien überlegen, wie er/sie gut in der Balance bleibt. Ich gebe Ihnen hier ein paar Anregungen.
- Unterscheiden Sie ganz klar zwischen Mitleid und Mitgefühl. Mitleid bedeutet, übertrieben gesagt: "Oh wie furchtbar, ich bin ganz fertig, wenn ich sehe, wie schlecht es dem anderen geht, ich drehe gleich durch." Mitgefühl bedeutet: "Ich fühle mit, wie es sein mag, sein Zuhause/seine Familie zu verlieren. Ich frage mal, wie ich helfen kann."
Mitleid sollten wir als solches erkennen und versuchen, es zu mildern, denn wir richten dadurch den Fokus auf uns selbst und nicht auf die, die wirklich Hilfe brauchen (in diesem Fall die Ukrainer). Ich gehe unten gezielt darauf ein, welche Selbstfürsorge nötig ist, damit wir wenig Mitleid empfinden. Wenn wir alle im Mitleid ertrinken, wird die Stimmung schlecht und wir müssen uns gegenseitig aufbauen, anstatt denen zu helfen, die wirklich Hilfe brauchen.
Mitgefühl würde bedeuten, sich wirklich intensive Gedanken darüber zu machen, wie man selbst helfen kann: Hat man einen Raum und die zeitliche und finanzielle Möglichkeit, Geflüchtet bei sich aufzunehmen? Wenn ja: Großartig! Wenn nicht, sollte man sich deswegen nicht schuldig fühlen, sondern andere Wege suchen, um zu helfen. Zum Beispiel Geld zu spenden, an Demonstrationen teilzunehmen, Geflüchtete zu unterstützen durch Kleidersammlung, organisatorische Hilfe. Wenn Sie entschieden haben, ob und ggf. wie Sie helfen können, tun Sie sich einen großen Gefallen, es strukturiert anzugehen. Und wenn Sie keine Kraft oder Kapazität haben, ist es wichtig, auch das zu akzeptieren und sich deswegen keine Schuldgefühle zu machen. - Seien Sie sehr sensibel mit Ihrem Nachrichtenkonsum. Fühlen Sie intensiv hin, was bewegte Bilder von Katastrophen (Panzern, Bränden, Zerstörung etc.) mit Ihnen machen. Viele sensible Menschen reagieren mit starker Panik und der Ausschüttung von Stresshormonen auf diese Bilder. Auch stehende Bilder von Katastrophen-Szenarien sind belastend. Suchen Sie sich ggf. nur Textbeiträge, um informiert zu sein. Und entscheiden Sie sorgsam, wie oft und zu welchen Zeiten Sie die Nachrichten über den Krieg in Ihr Leben lassen. Auch wieder: Niemandem in der Ukraine oder anderswo ist damit gedient, dass Sie sich schlecht fühlen! Ich würde Ihnen empfehlen, wirklich nur in kleinen Dosen Nachrichten zu sehen und nicht fortlaufend, denn das bringt den Krieg näher in ihr Zimmer und raubt Ihnen den sicheren Ort, den Sie dringend brauchen.
Das gleiche betrifft Unterhaltungen mit Freund*innen über den Krieg. Entscheiden Sie, gerade als sehr sensibler Mensch, um welche Uhrzeit Sie sich damit konfrontieren und mit welchen Menschen Sie darüber reden. Einige Menschen neigen dazu, sich Katastrophenszenarien auszumalen. Andere haben vielleicht auch ein offenes Ohr dafür, wie es Ihnen geht. - Beschäftigen Sie sich mit Ihrer Angst. Hier sind zwei Selbsthilfebücher:
"Sei stärker als die Angst: Ein Arbeitsbuch, das dein Leben verändern wird" von Sabrina Fleisch "Selbsthilfe bei Ängsten" von Gudrun Görlitz und Nadine Bachetzky. - Schaffen Sie Normalität in Ihrem Leben. Kleine Kinder im Kindergarten haben feste Rituale: Sie hängen morgens die Jacke an den Haken mit ihrem Tierbild (immer schön an den Löwen-Haken), gehen dann in den Morgenkreis, ziehen dann die Buddelhose an und gehen auf den immer gleichen Spielplatz, und dann gibt es Mittagessen. Danach wird geschlafen, dann kann man noch etwas frei spielen und dann wird man abgeholt.
Und wenn etwas aus der Reihe passiert, z.B. ein Ausflug, wird das vorher angekündigt und besprochen. Normalität und eine feste Tagesstruktur sind das A und O in unruhigen und bedrohlichen Zeiten.
Mir gibt es sehr viel Halt, mich morgens gleich als erstes an mein Klavier zu setzen und Bach zu spielen. Bach ist so strukturiert, so geordnet, hat ganz viel Erdung und gleichzeitig einen guten Draht zu einer höheren Ordnung. Mich beruhigt das sehr. Diese Musik gibt es seit fast 300 Jahren und es gibt - wenigstens am Klavier - keine bösen Überraschungen. Und natürlich ist das Handy verbannt, so dass ich in der ersten Zeit morgens keine Katastrophenmeldungen sehen muss. Überlegen Sie doch mal, was Ihnen Halt und Sicherheit gibt!
Gerade die Zeiten morgens und abends sind ganz wichtig, um sich zu beruhigen und gut in den Tag zu starten. - Machen Sie Sport. Entweder etwas zum Dampf ablassen (Schwimmen, Laufen, Boxen) oder etwas, um gut in Kontakt mit sich zu kommen. Yoga ist sehr empfehlenswert (übrigens in Krisenzeiten besser als Meditation), weil wir uns durch die Anleitung zum Atmen (insbesondere Ausatmen) sehr gut entspannen können. Abends helfen auch Yogaformen wie Yin-Yoga, in der Positionen lange in großer Ruhe gehalten werden. Yoga gibt es auch online, so dass Sie danach gleich zur Ruhe kommen können.
- Schaffen Sie sich Erfolgserlebnisse im Alltag. Praktische Tätigkeiten wie etwas aufräumen, streichen oder zusammen bauen, eine Hausarbeit oder Präsentation fertig stellen oder eine Sprache auffrischen. Denken Sie nach vorne und machen Sie Pläne. Das hilft, positiv in die Zukunft zu denken!
- Umgeben Sie sich mit Menschen, die positiv und zuversichtlich sind und die einen Sinn in ihrem Leben sehen.
- Dies ist ein sehr wichtiger Punkt: Praktizieren Sie in Ihrem Leben Frieden und ein Miteinander! Wo immer Sie noch etwas zu klären haben oder jemandem helfen können, sollten Sie jetzt aktiv werden. Das hilft aus den Ohnmachtsgefühlen heraus, die dadurch entstehen, dass wir mit so viel Gewalt, Bedrohung und Aggression konfrontiert sind. Durch ein freundliches und friedliches Miteinander in unserem persönlichen Umfeld fühlen wir uns mehr als Gemeinschaft - das stärkt.
Wenn Sie Gesprächsbedarf haben, hilft immer die Telefonseelsorge oder gehen Sie zur psychiatrischen Institutsambulanz (PIA). Sie können sich auch eine Sprechstunde bei einer/m Psychotherapeut*in besorgen über die Terminsservicestelle. Therapeut*innen sind verpflichtet, ein gewisses Kontingent an Stunden für neue Patient*innen zu vergeben, auch wenn sie keinen Therapieplatz frei halten. Aber manchmal hilft eine erste Einschätzung.
Herzliche Grüße und alles Gute für Sie,
Julia Peirano