Liebe Frau Dr. Peirano,
es gibt ein Problem in meiner Urspungsfamilie. Ich (53) habe einen zwei Jahre älteren Bruder. Unsere Mutter hat uns als Kinder schon öfter abwechselnd bevorzug und gegeneinander ausgespielt.
Ich war immer eine gute Schülerin und die Rolle des fleißigen Kindes übernommen, das keinen Ärger macht.
Mein Bruder hat ADHS und hat später auch mit Drogen und Alkohol Probleme gehabt. Das hat er zum Glück in den Griff bekommen. Er lebt jetzt in Chile und hat zwei Kinder. Er ist geschieden.
Schon früher war es so, dass ich Verantwortung für meinen Bruder übernehmen, ihm bei den Schulaufgaben helfen und ihn unterstützen sollte. Das habe ich gemacht. Als er Schwierigkeiten mit seiner Beziehung hatte, bin ich nach Chile gereist und habe mit ihm gesprochen und ihn unterstützt. Leider hat unsere Mutter meinem Bruder Unwahrheiten über mich erzählt und ihm meine Erfolge vor Augen gehalten, sodass unser Verhältnis mittlerweile sehr oberflächlich ist.
Seit zehn Jahren hat mein Bruder keine Arbeit mehr, sondern lebt mit seinen Kindern in einem Haus, das meine Mutter ihm damals gekauft hat. Sie finanziert seinen gesamten Lebensunterhalt (und den der Kinder), aber es wird nicht offen darüber gesprochen, wie viel sie ihm jeden Monat schickt. Wenn ich anmerke, dass ich das etwas unfair finde, sagt sie sofort: "Du musst dich gerade beschweren, gönnst deinem Bruder nichts und hast selbst genug Geld für dauernde Reisen und Klamotten."
Ich bin verheiratet und mein Mann und ich arbeiten hart (beide Vollzeit plus) und kommen gut klar. Meine Mutter wohnt in der gleichen Stadt. Sie hat mir damals zu unserem Haus Geld dazu gegeben, aber es war definitiv nicht so viel, wie mein Bruder für sein Haus bekommen hat. Als ich einmal Geld für eine Renovierung brauchte, hat sie mir Geld geliehen, aber die Rückzahlung verlangt. Das waren 20.000 Euro. Mein Bruder bekommt bestimmt jeden Monat mindestens 4000 Euro, das sind pro Jahr 48.000 Euro, seit zehn Jahren also ca. eine halbe Million. Und wer weiß, wie lange das so weiter geht…
Ich finde das komplett unfair. Ich habe mich hier seit Jahren um meine Mutter gekümmert, was überhaupt nicht einfach war, da sie eine schwierige Person ist. Mein Bruder ruft sie an uns säuselt am Telefon "Mami hier, Mami dort. Du bist die beste Mami", und sie findet, dass man sich mit ihm so gut unterhalten könne und dass er so tolle Meinungen habe.
Mein Problem ist jetzt, dass ich vor einem Jahr den Kontakt zu meiner Mutter abgebrochen habe. Ein Grund dafür war die finanzielle Ungerechtigkeit, andere Gründe waren dauernde Schikanen und Kritik an mir, Forderungen, dass ich mehr Zeit mit ihr verbringe, Eifersucht auf meinen Mann, abstrafendes Verhalten und reine Willkür. Kurzum, es war richtig toxisch und ich habe auf unbestimmte Zeit den Kontakt abgebrochen.
Mein Vater, der vor 15 Jahren verstorben ist (ein sehr liebenswerter, kluger Mann) und meine Mutter haben zusammen ein Berliner Testament erstellt. Das heißt: Nach dem Tod eines Ehepartners erbte erst einmal der andere (in diesem Fall meine Mutter) alles. Ich habe übrigens drei Werbe-Kugelschreiber und Vaters alte Uhr aus seiner Krimskrams-Schublade genommen. Ich habe NICHTS bekommen, als er starb.
Nach dem Tod des zweiten Ehepartners (meiner Mutter) ist geregelt, dass mein Bruder und ich alles, was übrig bleibt, zu gleichen Teilen bekommen, und falls einer von uns vorzeitig verstirbt, würden dessen Erbe an seine Kinder übergehen. Das Testament darf nicht geändert werden, aber zu Lebzeiten darf meine Mutter über das Geld frei verfügen.
Ich mache mir nun Sorgen, dass meine Mutter vor ihrem Tod meinem Bruder ihr Mietshäuser oder ihr Ferienhaus überschreibt - oder sogar den Enkeln. Seitdem ich den Kontakt abgebrochen habe, bemüht sie sich um meinen Bruder und dessen Kinder und auch um meine Kinder. Sie lädt alle in eine Finca auf Mallorca ein, gibt große Geschenke und Zuschüsse zum Studium. So kauft sie sich die Zuneigung.
Ich habe gelesen, dass man als Erbin bei einem Berliner Testament alles zurückfordern kann, was der verbleibende Elternteil vor seinem Tod verschenkt hat. Das würde aber natürlich einen Rechtsstreit bedeuten, den ich gerne vermeiden würde. Vor allem, wenn es ein Rechtsstreit zwischen den Kindern meines Bruders und mir bedeutet. Meinen Kindern würde ich selbstverständlich alles überlassen, was sie erben. Oder falls meine Mutter einfach das Testament missachtet und allen Enkelkindern alles schenkt und darauf hofft, dass mein Bruder und ich gegen unsere eigenen Kinder bzw. Nichten und Neffen nicht vor Gericht ziehen würden.
Kurzum: Ich fühle mich eh schon benachteiligt, weil ich immer mehr tun musste als mein Bruder, er schon jetzt viel mehr Geld bekommen hat als ich und ich möglicherweise nach dem Tod meiner Mutter (84) leer ausgehe, obwohl ich NICHTS getan habe, um das zu verdienen. Ich habe nur den Kontakt nach reiflicher Überlegung abgebrochen, weil ich durch das toxische Verhalten meiner Mutter zu sehr gelitten habe.
Was raten Sie mir?
Viele Grüße
Christine P.
Liebe Christine P.,
es klingt nach einer sehr vertrackten und emotional schwierigen Situation, in der Sie stecken!
Es tut bestimmt weh, so ungerecht behandelt zu werden: Weniger Geld zu bekommen, Schulden zurückzahlen zu müssen, während Ihr Bruder ein Vielfaches des Geldes bedingungslos überwiesen bekommt, und sich wegen der Erbschaft so verunsichert zu fühlen.
Ihre Mutter hat von dem Berliner Testament schon profitiert, weil Sie und Ihr Bruder nach dem Tod Ihres Vaters erst einmal nichts geerbt haben (und sich, wie es klingt, auch an die Spielregeln gehalten und Ihren Pflichtteil nicht gefordert haben). Und jetzt steht Ihre Mutter in einer Situation, in der Sie möglicherweise sich nicht an die Spielregeln hält, die sie und Ihr Vater selbst aufgestellt haben: Nach dem Tod des zweiten Elternteils erben die Kinder zu gleichen Teilen alles.

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe
Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben.
Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.
Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.
Sehr unfair und verwirrend kommt es mir auch vor, dass die fleißige Tochter, die sich an die Regeln hält, benachteiligt wird, während der Bruder, der Schwierigkeiten gemacht hat (Drogen, Alkohol, Arbeitslosigkeit) deutlich bevorzugt wird. Das ist eine Verdrehung der Tatsachen und auch der Wertvorstellungen. Und gleichzeitig hat Ihr Mutter durch ihre Worte und Taten auch einen Keil zwischen Sie und Ihren Bruder getrieben, was sehr schade ist. Haben Sie einmal versucht, offen mit ihm zu sprechen oder zumindest einen freundlichen Kontakt zu ihm zu haben?
Nach alldem, was Sie erlebt haben, ist es sicher ein wohl überlegter und dringend notwendiger Schritt, dass Sie den Kontakt abgebrochen oder zumindest pausiert haben. Möglicherweise wird Ihrer Mutter erst jetzt klar, dass sie sich selbst in eine unvorteilhafte Situation gebracht hat: Sie ist 84, hat eine Tochter , die in der gleichen Stadt wohnt und fest im Leben steht. Und sie hat einen Sohn, der in einem anderen Kontinent lebt und sein Leben nicht in den Griff bekommt. Wenn sie älter und möglicherweise hilfsbedürftig ist, wird sie Sie als Tochter brauchen.
Ich habe von einigen Fällen gehört, in denen ein längerer Kontaktabbruch zumindest dafür gut war, um ein paar Grenzen zu setzen und zu sagen: "bis hierhin und nicht weiter." Möglicherweise wird Ihrer Mutter klar, dass sie einlenken und Ihnen Respekt zeigen muss, wenn sie Sie als Hilfe vor Ort nicht verlieren will.
Ich würde Ihnen folgendes empfehlen: Gehen Sie doch zu einer*m Rechtsanwält*in für Erbrecht und lassen Sie sich gründlich beraten, was für Möglichkeiten es gibt, Ihre Erbschaft eines Tages zu bekommen. Und lassen Sie sich auch darlegen, ob Sie verlangen können, dass die regelmäßigen, jahrelangen Schenkungen an Ihren Bruder mit der Erbschaft verrechnet werden.
Aus meiner psychologischen Sicht hat können Sie sich auf eines verlassen: Auf den Egoismus Ihrer Mutter. Sie hat stets dafür gesorgt, dass es ihr selbst gut geht und sie ihre Interessen durchsetzt. Insofern gibt es Anlass zur Hoffnung, dass Sie auch im Alter (mit schwindender Macht, Mobilität und Gesundheit) sich selbst die nächste ist und ihr Geld für alle Fälle behält.
Und hier spricht das Testament zur Ihren Gunsten: Sie kann nicht verfügen, dass nach ihrem Tod etwas daran geändert wird, dass Sie und Ihr Bruder jeweils die Hälfte bekommen. Sie kann nur zu Lebzeiten alles verschenken - und welcher vernünftige und in diesem Fall machthungrige Mensch würde das tun?
Zweitens würde ich Ihnen aus psychologischer Sicht raten, loszulassen. Sie sind erschöpft und verletzt durch das Verhalten Ihrer Mutter, Sie brauchen eine Pause. Lassen Sie die Dinge doch laufen und konzentrieren Sie sich auf sich und Ihre Lieben, verarzten Sie Ihre Verletzungen und tun Sie alles, was Ihnen gut tut und Kraft gibt.
Sie sind beruflich erfolgreich, Ihr Mann ist es auch. Werfen Sie gemeinsam doch einen Blick auf Ihre Rente und bessern Sie diese ggf. auf, so dass Sie auch ohne die Erbschaft Ihrer Mutter im Alter klar kommen. Wahrscheinlich wird es nicht eintreffen, dass Sie in puncto Erbschaft leer ausgehen, aber es wäre an dieser Stelle wichtig, gründlich zu sein und sich komplett davon unabhängig zu machen.
Wenn Sie alle Schachzüge Ihrer Mutter im Voraus durchgehen und sich davor fürchten, werden Sie nicht zur Ruhe kommen. Konzentrieren Sie sich lieber auf das, was Sie haben und was positiv ist in Ihrem Leben.
Und noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Es kann gut sein, dass Ihre Mutter eines Tages bei Ihnen ankommt (weil sie Sie braucht) - oder möglicherweise sind Sie selbst irgendwann zu einer Befriedung der Situation bereit. Dann können Sie Ihrer Mutter die Bedingungen nennen, unter denen Sie wieder zum Kontakt bereit sind. Respekt und Verlässlichkeit könnten dann an oberster Stelle stehen - und dazu gehört natürlich auch, dass es keine bösen Überraschungen hinsichtlich der Erbschaft gibt.
Herzliche Grüße
Julia Peirano