J. Peirano: Der geheime Code der Liebe Meine verwöhnte Schwester spannt mich ständig als Gratis-Babysitterin ein

Eigentlich passt Agnes gerne auf die Kinder ihrer Schwester auf – nur eben nicht ständig (Symbolbild)
Eigentlich passt Agnes gerne auf die Kinder ihrer Schwester auf – nur eben nicht ständig (Symbolbild)
© JLco - Julia Amaral / Getty Images
Schon seit ihre Schwester geboren ist, spielt Agnes die zweite Geige. Und dieses Muster setzt sich auch fort, obwohl beide längst erwachsen sind – und sie Agnes als Dauerbetreuung für die Kinder benutzt. Wie kann sie ihr klarere Grenzen zeigen?

Liebe Frau Peirano,

ich (40) habe eine sehr undankbare Rolle in meiner Familie. Ich bin die Älteste, unehelich von meiner Mutter (mein Vater ist unbekannt, eine Kneipenbekanntschaft)  mit in die Beziehung zu meinem Stiefvater eingebracht worden. Als ich klein war, musste sie sich durchschlagen als Putzhilfe, Kellnerin, Verkäuferin.

Als ich sieben war, lernte meine Mutter meinen Stiefvater kennen und wir zogen bei ihm ein: schönes Haus, Garten, gute Wohngegend. Kurz darauf wurde meine kleine Schwester geboren: das Wunschkind, die kleine Prinzessin. Sie stand immer im Mittelpunkt und ich habe mich unsichtbar machen müssen.

Sie bekam das größere und hellere Zimmer, ich das kleine halbe Zimmer. Sie durfte reiten und bekam ein Pony, für mich reichte auch der Schulsport. Und so weiter.

Nun ist meine "kleine" Schwester erwachsen geworden und hat selbst zwei Mädchen. Und da ich keine Kinder habe und in der Nähe wohne, sieht meine Schwester es als selbstverständlich an, dass ich dauernd einspringe. Wenn sie ein Wochenende wegfahren will, wenn sie ohne Kinder im Schlepptau ins Fitnessstudio gehen oder shoppen will, wenn sie mal ein bisschen Kopfschmerzen hat (oder vielleicht auch einfach abends ein Glas Wein zu viel getrunken hat).

Ich Dumme springe auch ein, weil ich die Kinder süß finde und sie mir etwas Leid tun. Auf eine Art werden sie vernachlässigt, auch wenn sie alles haben.

Aber vor Kurzem habe ich eine neue Arbeit gefunden, die mich sehr fordert, und danach möchte ich eigentlich auch mal mein eigenes Leben haben. Doch wenn meine Schwester anruft, kommen so alte Muster durch und ich sage nur zu allem Ja und Amen.

Meine Mutter findet es eigentlich auch selbstverständlich, dass ich meiner Schwester helfe. Mein Stiefvater lebt nicht mehr.

Ich weiß nicht, wie ich aus der Geschichte heraus komme. Ich habe sofort ein schlechtes Gewissen, wenn ich nur daran denke, nein zu sagen, wenn sie mich fragt. Und ich denke irgendwie auch, dass ich keine Chance habe, da raus zu kommen, weil alle das von mir erwarten.

Haben Sie einen Rat für mich?

Viele Grüße

Agnes V.


Liebe Agnes V.,

es wundert mich nicht, dass Sie sich zum Helfen und mitunter auch zur Selbstaufgabe verpflichtet fühlen. Sie hatten ja immer schon eine - wie Sie schreiben - undankbare Rolle in Ihrer Familie.

Sie sind anscheinend kein Wunschkind, haben keinen Vater, der sich um Sie gekümmert hat oder zusammen mit Ihrer Mutter die Verantwortung übernommen hat.

Es hört sich ein bisschen so an, als wenn Ihre Mutter ein recht hartes Leben hatte, als Sie noch klein waren, und möglicherweise hat sie Ihnen auch bewusst oder unbewusst die Schuld dafür in die Schuhe geschoben, dass sie ein so belastetes Leben hatte. Kinder sind sehr sensibel dafür, ob sie in einer Familie willkommen sind oder ob sie sich nur geduldet fühlen. Und Kinder nehmen viel auf sich, um ihren Eltern zu gefallen oder diese zu trösten, ihnen zu helfen und um keinen Ärger zu machen. Anscheinend haben Sie das als Kind auch gelernt und verinnerlicht.

Es ist eine Art Daseins-Schuld: Sie mussten schon als Kind etwas dafür tun, um da sein zu dürfen. So wie vielleicht ein ungebetener Gast auf einer Party, der keinen kennt, sich verpflichtet fühlt, das Geschirr abzuräumen oder auf der härtesten Matratze zu schlafen. Das Lebensmotto ist: "Bloß keine Umstände machen."

Porträt Dr. Julia Peirano
© Kirsten Nijhof

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben. 

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Ihre Schwester wurde in völlig andere Lebensumstände hinein geboren. Sie hatte zwar "eigentlich" die gleiche Mutter, aber die befand sich in einer ganz anderen Situation. Sie hatte gerade einen wirtschaftlich gut situierten Mann kennen gelernt, der sich an sie gebunden hat und mit ihr eine Familie gründen wollte. Sie schreiben nicht, wie Ihr Stiefvater sich Ihnen gegenüber verhalten hat. Aber anscheinend hat er die Ungleichbehandlung - oder auch das Zwei-Klassen-System- zwischen Ihnen und Ihrer Halbschwester zumindest toleriert, wenn nicht sogar gewollt.

Noch ein Grund mehr, dass Sie Ihr Muster "Bloß keine Umstände machen" verfestigt haben.
Vielleicht gab es auch hier Schuldgefühle? Ihre Mutter hatte eine Daseinsberechtigung als Partnerin des Stiefvaters, die Schwester ist ein Wunschkind. Aber wie haben Sie sich gefühlt? Öfter höre ich von Kindern in einer ähnlichen Konstellation (die Mutter bringt ein Kind mit in eine neue Beziehung, in der sie wirtschaftlich deutlich unterlegen ist), dass sie sich unsichtbar machen wollen, um der Mutter das neue Glück nicht zu verderben. Ich kann mir vorstellen, dass die Situation für Sie belastend gewesen ist.

Und dazu kommt das Ungerechtigkeitsempfinden und vielleicht auch Neid: Die kleine Schwester darf reiten, für einen selbst reicht Schulsport? Es hört sich ein bisschen so an wie der junge Harry Potter es bei den Dursleys hatte…

Das kann einen verbittern, und die Verbitterung spüre ich auch bei Ihnen.

Wie wäre es denn, wenn Sie sich mal die kleine Agnes vorstellen, die Sie mal waren, und - so komisch es klingen mag - mal liebevoll mit ihr reden? Sie könnten ihr sagen, dass sie bei Ihnen willkommen ist und dass Sie sich für sie und ihre Bedürfnisse einsetzen werden.

Ich denke, dass das ein ganz wichtiger Bestandteil ist, um etwas für sich zu tun und Grenzen zu setzen. Sie haben gelernt, alles mögliche für andere Menschen zu tun, nur nicht für sich selbst. Jetzt können Sie genau das nutzen und etwas für die jüngere Agnes tun: Nämlich dafür zu sorgen, dass ihre Bedürfnisse an erster Stelle stehen! Jedenfalls in Ihrem System und da, wo Sie das Sagen haben. Und das betrifft ja auf jeden Fall Ihre Entscheidung über Ihre kostbare Zeit.

Und genau an dieser Stelle entsteht Selbstwertgefühl und das Gefühl, wichtig zu sein, da sein zu dürfen und geliebt zu werden. Allerdings wird es viel Einsatz brauchen, um der jüngeren Agnes dieses Gefühl zu geben und auch ihr Vertrauen durch Taten zu stärken, dass Sie (die erwachsene Agnes) für sie da ist. Immer und ohne jedes Wenn und Aber.

Und als nächstes müssten Sie sich darauf einstellen, dass es sich trotzdem nicht gut anfühlen wird, Ihrer Schwester Grenzen aufzuzeigen. Das ist von Kindheit an ein Tabu gewesen, es wurde mit Schuld- und Schamgefühlen durchgesetzt, und deshalb kann es sich nicht gut anfühlen, jetzt plötzlich anders zu handeln. Dennoch sollten Sie es tun. Wir alle tun ja ständig Dinge, die sich nicht unmittelbar gut anfühlen (Ich musste zum Beispiel gerade aus dem herrlichen italienischen Frühling wieder in den Hamburger Winter zurückkehren; viele lernen für Prüfungen, obwohl man Angenehmeres zu tun hätte; man geht zur Darmspiegelung, obwohl das unangenehm ist).

Doch es ist immer gut, Werten zu folgen anstatt Gefühlen. Also wäre es gut, sich für die Abgrenzung zu entscheiden, OBWOHL dann Ihre Schuldgefühle Zeter und Mordio schreien werden.

Und wie geht es? Ich würde die elegante Methode der wattierten Wand empfehlen. Sagen Sie Ihrer Schwester (noch) nicht die Meinung ("Du bist verwöhnt und denkst immer nur an dich"). Vielleicht kommt es irgendwann dazu, aber dazu müssten Sie sich gut vorbereiten und sicher sein.
Verpacken Sie Ihr unverhandelbares Nein (die Wand) hinter etwas Watte. Begründen Sie Ihr Nein doch mit Aussagen, die jeder vernünftige Mensch unterschreiben würde: "Ich arbeite viel und muss mich am Wochenende ausruhen."

Und dann wiederholen Sie diesen Satz gebetsmühlenartig, wenn Ihre Schwester Sie fragt, ob Sie einspringen können.

Zwei weitere Tipps: Programmieren Sie den Namen Ihrer Schwester als Umschreibung (z.B. "Nimmersatt" oder "Prinzessin auf der Erbse") in Ihr Handy und geben Sie ihr einen speziellen Klingelton. Gehen Sie am Besten nie sofort ran, wenn Ihre Schwester anruft. Denn Sie haben ja viel Arbeit und wollen sich ausruhen (die Gebetsmühle), und wenn man arbeitet oder sich ausruht, geht man halt nicht ans Handy.

Sagen Sie nie sofort zu, sondern sagen Sie, dass Sie sich zurück melden, wenn Sie darüber nachgedacht und in Ihren Kalender geschaut haben. Dann fragen Sie die kleine Agnes, ob Sie Lust hat, babysitten zu gehen, und wenn sie das nicht möchte, wiederholen Sie Ihr Mantra. "Da habe ich so viel Arbeit, danach wird mir das zu viel, weil ich mich ausruhen muss."

Wenn Sie das eine Weile konsequent durchhalten, wird Ihre Schwester sich schon andere Babysitter suchen. Sie kann ja exzellent für sich sorgen. Und dann unternehmen Sie etwas Schönes mit der kleinen Agnes. Dadurch wird sie Vertrauen aufbauen.

Herzliche Grüße

Julia Peirano

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