Ihren 30. Geburtstag feiert Mildi im Allgäu, im August 2006. Die psychotherapeutische Klinik, in der sie zu der Zeit wohnt, liegt im bayerischen Idyll. Von den Therapieräumen aus sieht man das satte Grün der Weiden, die roten Dächer der Dorfhäuser und die Spitzen der Berge, wie sie in den blauen Himmel ragen. Insgesamt acht Wochen verbringt Mildi in der Klinik. "Ich hatte Schlafstörungen und dauernd furchtbares Herzrasen", sagt sie heute über diese Zeit. "Wie so eine Dauerpanikattacke." Danach macht sie noch mehrere ambulante Therapien.
Wann sie ihre erste Depression hatte, weiß Mildi heute nicht mehr. Zum ersten Mal habe sie die tiefe Traurigkeit schon vor der Pubertät verspürt, sagt sie, in ihrem Kinderzimmer. "Ich bin so aufgewachsen, dass meine Bedürfnisse nicht so wichtig sind", sagt Mildi. "Die eigenen Bedürfnisse völlig zu ignorieren, um anderen zu gefallen, um Beziehungen aufrecht zu erhalten oder geliebt zu werden, darin war ich richtig, richtig gut." Und sie betont den letzten Teil des Satzes so inbrünstig, dass man ihn ihr sofort glaubt.
Mildi heißt eigentlich anders, ist 44 Jahre alt, selbstständig und wohnt in einer Drei-Zimmer-Wohnung im Süden Deutschlands. Wenn sie sich am Telefon meldet, klingt ihre Stimme sanft und mütterlich, auch dann noch, wenn sie den Hund im Hintergrund ermahnt, nicht mehr an den Schuhen zu kauen. Mildi hat zwei Kinder, die acht und zwölf Jahre alt sind. Der Sohn wohnt die meiste Zeit bei seinem Vater, die Tochter wohnt bei Mildi. Um ihre Kinder, den Hund, die Wohnung – ja, um alles eigentlich, kümmert sie sich allein. Auch dann, wenn die beklemmende Traurigkeit wieder herankriecht und Mildis Brustkorb schwer werden lässt.

Mildis Umgang mit den depressiven Episoden ist heute kontrollierter, weil sie den Ablauf kennt und viele Stressfaktoren schon im Voraus eliminiert. Und dennoch: Sie kommen, hin und wieder, und Mildi muss sich an diesen Tagen etwas mehr um sich selbst kümmern, damit es nicht schlimmer wird. Wie geht das als alleinstehende Mutter?
Alleinerziehende Mütter schätzen ihre Gesundheit weniger gut ein
Dem Statistischen Bundesamt zufolge waren 2019 rund 2,2 Millionen Mütter in Deutschland alleinerziehend. Alleinerziehende Frauen, das haben Studien herausgefunden, schätzen ihre Gesundheit oft schlechter ein als Mütter in einer Partnerschaft. Das betrifft vor allem die psychische Gesundheit. Die Gründe dafür sind unter anderem die alleinige Verantwortung für die Kindesbetreuung und -erziehung, die Mehrfachbelastung durch Familie und Beruf, dazu weniger Sozialkontakte, weniger Zeit, weniger Geld. Alleinerziehende und ihre Kinder sind außerdem öfter von Armut betroffen. Selbst dann, wenn sie erwerbstätig sind.
Auch Mildi sagt, oft sei das finanziell Unvorhergesehene auslösend für eine depressive Episode: eine Rechnung für ein kaputtes Licht am Auto, Tierarztkosten für den Hund, die Pandemie, in der die selbstständige pädagogische Beraterin ihre Arbeit nicht fortführen kann. "Wenn ich merke: Es funktioniert nicht, ich weiß nicht, wovon ich unser Leben bezahlen soll", sagt Mildi. "Dann geht dieses Gefühl los."

Das Gefühl, so beschreibt Mildi es, ist, als würde etwas Schweres auf ihrer Brust sitzen, als könne sie nicht mehr atmen. "Wie dieser Moment, kurz bevor man anfängt zu weinen und die Tränen kommen", sagt sie. "Aber dauerhaft." Sie fühle sich dann hoffnungslos, als mache nichts mehr einen Sinn. Meist kämen dann noch Selbstzweifel hinzu. "Und das Gefühl in der Summe lähmt mich und führt dazu, dass ich kaum in der Lage bin, etwas zu machen", sagt Mildi.
Seit sie Kinder habe, sei es zumindest nie so schlimm gewesen, dass sie nicht mehr aufstehen konnte. Wenn das Gefühl heute kommt, sagt Mildi, dann laufe alles auf Sparflamme: Der Pizzadienst kommt dann, weil die Kraft für einkaufen, kochen und Küche putzen nicht reicht. Vom Sofa aufstehen, den Staubsauger einschalten und durch die Wohnung schieben: unglaublich anstrengend. Selbst duschen klappt da manchmal weniger regelmäßig. "Das ist so schräg für Außenstehende, weil man müsste ja einfach nur machen", sagt Mildi. "Und das ist auch das, was man dann oft gesagt bekommt: Du musst dich doch nur zusammenreißen."
Wer sich allein um eine Familie kümmert, muss länger funktionieren
Sich bei Depressionen einfach zusammenzureißen ist so effektiv, wie wenn man ein Pflaster auf einen gebrochenen Arm kleben würde. Und dennoch: Weil alleinerziehende Eltern oft keine andere Hilfe haben, müssen sie funktionieren und ihre Bedürfnisse zurückschrauben, um die Familie am Laufen zu halten. Daraus wird ein Teufelskreis, der unbehandelte psychische Erkrankungen oft noch schlimmer macht und weitere Folgen mit sich ziehen kann.
So war es auch bei Mildi. Der andauernde Sorgerechtsstreit vor Gericht habe sie enorm belastet, erzählt sie, die Besuche vom Jugendamt und vom Verfahrensbeistand seien retraumatisierend gewesen, auch weil sie zeigten: Was Mildi sagt und fühlt, spielt hier keine so große Rolle. Dennoch muss sie funktionieren: Um den Unterhalt für ihren Sohn zu bezahlen und das Leben ihrer Tochter zu finanzieren, habe Mildi zeitweise in drei Jobs gearbeitet: als Krankenschwester im Außendienst, als freischaffende Familienberaterin, als Putzkraft. "Man ist verpflichtet, so viel zu arbeiten, dass man den Unterhalt zahlen kann", sagt Mildi. "Das interessiert kein Gericht der Welt, wie es einem selber damit geht." Bis es immer schlimmer wird: 2017 habe Mildi schließlich ein Burn-Out gehabt und einen Autounfall, bei dem sie ein Schleudertrauma und eine Schulterprellung davontrug.
Die meisten Eltern in einer Partnerschaft müssen nicht vor Gericht um das Sorgerecht für ihre Kinder streiten, teilen sich bei Unfällen oder Krankheiten die Arbeit oder können die Kindespflege übernehmen, wenn einer der beiden Freiraum braucht. In Mildis Familie übernimmt sie als einzige Erwachsene alle Rollen. Doch Zeit ist für viele Alleinerziehende genau wie Geld ein knapp bemessenes Gut.
"Ein Teil von mir war froh, wenn mein Sohn abgeholt wurde und es wieder ruhig war"
Wenn Mildi jeden zweiten Freitag zuerst ihre Tochter aus der Schule geholt hat und zur nächsten Schule gefahren ist, um ihren Sohn für das gemeinsame Wochenende einzusammeln, habe sich der Stress oft rasant aufgebaut. Zwei müde und genervte Kinder im Auto, stundenlanges Rumfahren, Stau auf der A9, die beiden Geschwister, die sich wieder an den Gedanken gewöhnen müssen: Da ist noch ein weiteres Kind, das die Aufmerksamkeit von Mama braucht. Dazu das schlechte Gewissen, dass der Besuch des Sohnes manchmal mit Streit und Tränen statt Harmonie und Autogesängen beginnt.
"Ein Teil von mir war nach den 48 Stunden wieder froh, wenn mein Sohn abgeholt wurde und es wieder ruhig war", sagt Mildi. "Und mit diesen Gedanken ging es mir auch nicht gut. Sowas zu sagen, klingt schrecklich, denn ich will mein Kind natürlich bei mir haben." Nur: Die Situation erlaubt es nicht.
Es geht Mildi nicht mehr darum, Übermutter zu sein
"Die Diagnose habe ich gegenüber meinen Kindern nie erwähnt", sagt Mildi. Menschen seien unterschiedlich sensibel, und manche Menschen robuster als andere. So habe sie das den Kindern erklärt: "Und ich bin halt nicht so robust und kann manchmal Stress nicht so gut aushalten." Deswegen gebe es in Mildis Leben Zeiten, in denen es ihrer Seele nicht so gut geht, in denen das Leben anstrengt. Dennoch habe sie sich vor ihren Kindern oft zusammengerissen, sagt Mildi. "Nach innen leiden", nennt sie das.

Damit das innere Leiden nicht mehr so stark wird wie früher, schafft Mildi heute Raum für ihre Bedürfnisse. Das ist ein aktives Training, das viele Menschen mit Depressionen in der Therapie lernen: sich selbst zuhören, kraftraubende Personen aus dem Leben schaffen, energiezehrende Situationen verändern, wo es geht. Mildi sagt, sie tausche sich online mit anderen Erwachsenen aus, denen es ähnlich geht wie ihr. Ihre Eltern unterstützten sie finanziell. Alleinerziehend ja, aber nicht allein. Kleine Erfolge schreibe sie auf, auch wenn es nur eine abgeschickte E-Mail ist oder eine fertig ausgeräumte Spülmaschine. "Und dann sehe ich auch ganz schnell: Es ist gar nicht so, dass ich nichts leiste und dass ich zu nichts in der Lage bin", sagt sie. "Allein, was hier an Grundversorgung läuft, ist eigentlich total viel."
Mildi sagt, sie habe mal gelernt, dass man als Mutter nur für sein Kind sorgen kann, wenn es einem selber gut geht. Es klingt wie die Legitimation für ihre Selbstfürsorge: Ich habe die Erlaubnis, für mich selbst zu sorgen, damit ich für meine Kinder sorgen kann. Ich muss keine perfekte Übermutter sein. Ich bin gut, so wie ich bin.
Die strukturellen Probleme, die Alleinerziehende haben, mag diese Erkenntnis nicht lösen. Aber sie gibt Kraft. Und davon brauchen alleinerziehende Mütter manchmal mehr als alles andere.
Quellen:"Journal of Health Monitoring" / Statista