"Stress ist, wenn meine beste Freundin in der Pause mit jemand anderem spielt", sagt ein zehnjähriges Mädchen mit ernsten braunen Augen und die Runde nickt verstehend. "Oder wenn auf dem Schulhof immer so viel Streit ist", ergänzt ein Altersgenosse. "Wenn die Hausaufgaben kein Ende nehmen, wenn zu Hause dicke Luft ist, wenn einem niemand zuhört…". Die Liste der Stressfaktoren ist lang für das zarte Alter. Konzentriert hockt eine Gruppe acht bis zehnjähriger Jungen und Mädchen aus Braunschweig auf dem Boden eines Seminarraums der Techniker Krankenkasse und diskutiert ein Problem, das Erwachsene wohl meistens noch als ziemlich exklusive Bürde ihres eigenen Alltags begreifen.
Kinder empfinden Stress anders
Weit gefehlt, sagen Therapeuten. "Kinder", erklärt Psychologin Ursula Nünemann, "empfinden Stress genauso belastend wie Erwachsene." Nur die Symptome beschreiben sie anders: Kopfschmerzen, Übelkeit, Lethargie oder Aggressivität und Hyperaktivität, all das können Reaktionen auf das gleiche Phänomen sein. Immerhin 72 Prozent der Kinder im Alter zwischen acht und zehn Jahren gaben in einer aktuellen Studie an, einmal oder mehrmals in der Woche an Erschöpfungszuständen zu leiden. Weil so viel Druck schon bei den Kleinsten langfristig krank machen kann, fördert die Techniker Krankenkasse ein Projekt, das bereits in der Grundschule ansetzt. "Bleib Locker" heißt es und findet seit 2002 bundesweit statt. Kinder können sich ihre Angst von der Seele reden, machen Entspannungsübungen und Rollenspiele.
Jedes Kind reagiert auf Stress anders - genau wie Erwachsene auch, erklärt Arnold Lohhaus, Professor für Entwicklungs-Psychologie an der Uni Marburg und "Erfinder" des Programms. Die Folgen können gerade bei Kindern fatal und für Versicherer teuer sein: Frustessen und Übergewicht, Diabetes, Schlaflosigkeit, Herz-Kreislaufstörungen, Lernblockaden. Je später die Symptome und ihre Ursachen erkannt werden, um so langwieriger ist zumeist die Therapie. Allein für ernährungsbedingte Krankheiten wird in Deutschland nach Berechnungen der gesetzlichen Krankenkassen jährlich ein zweistelliger Milliardenbetrag ausgegeben. Die Zahl der Diabetes-Erkrankungen im Kindesalter hat drastisch zugenommen.
Prävention jetzt - statt späterfür Folgekrankheiten bezahlen
Statt das Geld in die Behandlung von Folgekrankheiten zu stecken, fordern deshalb Mediziner, sollte mehr für die Prävention getan werden. Und tatsächlich geben die gesetzlichen Krankenkassen trotz Sparzwang jährlich immer mehr aus für vorbeugende gesundheitsfördernde Maßnahmen, in denen es vor allem auch um soziales Verhalten geht. Gegenüber 2003 stiegen die Aufwendungen für so genannte primäre Prävention nach Angaben der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen um 36 Prozent auf 148 Millionen Euro. Vor fünf Jahren wurden von allen gesetzlichen Kassen zusammen noch 43 Millionen Euro gezahlt. Nicht enthalten sind in diesen Zahlen Ausgaben für medizinische Vorsorgeleistungen wie Impfungen und Krebsvorsorgeuntersuchungen.
Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) habe im Jahr 2004 mit Präventionsleistungen etwa doppelt so viele Menschen erreicht wie noch im Jahr zuvor - annähernd 3,4 Millionen Menschen, berichten die Spitzenverbände. Das Bundesgesundheitsministerium registriert erfreut eine deutliche Zunahme des Angebots. Doch es könnte noch mehr sein. Nach dem Präventionsbericht der Krankenkassen lagen diese im Vorjahr mit einem statistischen Durchschnittswert von 2,11 Euro pro Patient bei den Ausgaben für Vorsorge-Maßnahmen noch hinter der gesetzlichen Empfehlung von 2,70 pro Patient zurück. Ein Präventionsgesetz soll in der laufenden Legislaturperiode für klarere Vorgaben sorgen.
Von Yoga bis Tai Chi
Die Kassen sind zur Unterstützung der Vorbeugung schon jetzt vom Gesetzgeber angehalten. Als förderungsfähig gelten nach den Bestimmungen des Sozialgesetzbuches dabei ausdrücklich auch Maßnahmen, die "den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern", von Raucherentwöhnungs-Seminaren bis Rückenschulen. Zuweilen liest sich die Aufstellung der von den einzelnen Kassen bezuschussten Kurse und Programme inzwischen wie der Leistungskatalog eines Fitness-Studios. Von der Meditation über die progressive Muskelentspannung, vom Stressbewältigungs-Training bis hin zu Yoga oder Tai Chi. Die Kassen veranstalten die Kurse entweder selbst oder sie übernehmen bis zu 80 Prozent der Kosten.
Doch trotz aller Vielfalt erreichen die Präventionsprogramme immer noch nicht einen großen Teil der Bevölkerung. Nach den gesetzlichen Vorgaben sollen diese Maßnahmen vor allem auch dort ansetzen, wo Armut und soziale Isolation eine angemessene Gesundheitsvorsorge erschweren. Präventionsprogramme sollen nach dem Willen des Gesetzgebers "die sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen" mindern. An sozial schwachen Bevölkerungsschichten, an Arbeitslosen oder Ausländerfamilien geht ein nicht unerheblicher Teil des bisherigen Angebots bislang aber schlicht vorbei, kritisieren Sozialverbände. "Präventionsmaßnahmen müssen früher beginnen und wohnortnäher ansetzen", findet der etwa der Vdk. Es gebe noch zu wenig Projekte, die sich gezielt an Familien richten.
Erreicht kaum sozial schwache Schichten
In den vergangenen Jahren seien vor allem Schulen und Kindergärten in Präventionsprojekte einbezogen worden, stellt die GKV fest. Auch für die steigende Zahl alter Menschen wird mehr getan: Ernährungskurse, Krafttraining für Senioren und Gesundheitsberatungen sollen helfen, länger selbständig und außerhalb von Pflegeheimen leben zu können. Allein, das betonen die Spitzenverbände der Krankenkassen, seien die Gesetzlich Versicherten langfristig mit der Finanzierung solcher Maßnahmen aber überfordert. "Prävention und Gesundheitsförderung sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe", heißt es in einer Stellungnahme zum aktuellen Präventionsbericht der Kassen. Bund und Länder dürften sich nicht aus der Verantwortung zurückziehen.