11.000 Kilometer Flucht Die Tonitos suchten Sicherheit, ein Auskommen – und fanden Trump

Sieben Jahre lang war Familie Tonito auf der Flucht – von Venezuela bis nach New York. Sie wollen den Kindern eine Zukunft bieten. Doch die Stimmung in den USA hat sich gewandelt.
Flucht ohne Ende
Flucht ohne Ende: Adriana Tonito mit ihren Kindern Mariana (l.) und Izzi auf dem Zug, der sie mit anderen Migranten durch Mexiko bringt
© Nicolò Filippo Rosso

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Nach sieben Jahren auf der Flucht, nach 11.000 Kilometern und acht Staatsgrenzen, nach Morddrohungen in Venezuela, Bandengewalt in Kolumbien und Erpressungen in Mexiko, steht die Familie Tonito im Herbst 2024 vor der bisher größten Herausforderung: Donald J. Trump.

Kein Tag vergeht, an dem der Republikaner nicht gegen Migranten hetzt, gegen Haitianer, die "Katzen essen", und Venezolaner, die US-Städte in "Kriegszonen" verwandeln, gegen Flüchtende im Allgemeinen, die "das Blut unseres Landes vergiften".

"Wir spüren die Ablehnung, selbst hier in New York", sagt Pedro Tonito. "Die Einheimischen schimpfen über die hohe Kriminalität, knappen Wohnraum, Billiglöhner. Man sagt, New York ist eine Stadt für Einwanderer. Das stimmt nicht. Wir Venezolaner sind nicht erwünscht."

Flucht ohne Ende
11.000 Kilometer, zahlreiche Stationen – eine der entscheidendsten: die Überquerung des Rio Grande zwischen Mexiko und den USA. Die Familie auf dem Weg zu seinen Ufern
© Nicolò Filippo Rosso

Selbst der Bürgermeister von New York, der Demokrat Eric Adams, sagt Sätze, die von der AfD stammen könnten: "Die Migrantenkrise wird New York zerstören."

Auch Joe Biden und Kamala Harris haben ihre Asylpolitik verschärft und lassen so gut wie keine Schutzsuchenden mehr ins Land – eine Abschottungspolitik, die sich an der ihres Vorgängers orientiert, Donald Trump. Sie alle wissen: Migration wird das Thema, das diese Wahl mitentscheidet. Das viel besungene Einwanderungsland Amerika hat sich grundlegend verändert.

"Unsere älteste Tochter Fedra hängt schon seit vier Monaten in Mexiko fest, seit Biden die Grenze schloss", sagt Tonito. "Sie ist erst 21 und den Gangs dort ausgesetzt. Es raubt mir den Verstand."

Pedro Tonito, 44, sitzt in einer Eckkneipe im Stadtteil Queens, im Arm sein gerade geborener Sohn Liam. Auf dem Teller Arepas, venezolanische Maisfladen, im Morgen-TV laufen Trumps dunkle Wahlspots über illegale Migranten – "Mörder, Vergewaltiger, Terroristen".

Tonitos Frau Adriana ist im Krankenhaus, wegen Komplikationen bei der Geburt. Seine Tochter an der Grenze bittet um Geld. Er telefoniert abwechselnd mit beiden, in einer fortwährenden Krisensitzung.

"Eigentlich muss ich arbeiten, aber wohin mit dem Baby", sagt er und steckt dem kleinen Liam die Flasche in den Mund. Die beiden anderen Kinder sind in der Schule.

Flucht ohne Ende
Jede neue Grenze und jedes weitere Land sind ein Risiko – doch die Sehnsucht nach Freiheit treibt sie an
© Nicolò Filippo Rosso

Die seelische Belastung ist gerade größer als während der Flucht.

Pedro Tonito ist ein hagerer Mann, geformt von sieben Jahren Überlebenskampf, die Statur knochig, die Arme sehnig. Er redet hastig und aufgeregt auf Spanisch, mit dem Englischen tut er sich noch schwer.

Der stern begleitet die Familie Tonito seit mehr als einem Jahr, seit ihrer Ankunft im Norden Mexikos. Ihre schauderhafte Odyssee endete jedoch nicht dort an der Grenze. Nach dem Übertritt in die USA verschickte der Gouverneur von Texas die Tonitos und Zehntausende Asylbewerber in Bussen nach New York, Chicago, Boston, damit die liberalen Großstädte die Folgen der Migration hautnah zu spüren bekommen.

Spätestens da merkten die Tonitos: Sie sind keine Geflüchteten. Sie sind ein Spielball der Politik, eine Zielscheibe im Wahlkampf, eine Einnahmequelle für Schleuser, ein Stückgut im internationalen Menschenhandel. Pedro Tonito sagt es so: "Ein jeder erreicht sein Ziel. Nur wir nicht."

Es ist ein Gedanke, der ihn verfolgt: Donald Trump muss nicht mal an der Macht sein, um seinen Willen zu bekommen. Wie kann es sein, dass ein einzelner Mann dieses große Land, das sich Einwandererstaat nennt, so umgekrempelt hat?

Auf groteske Weise erinnert ihn Trump an Nicolás Maduro, den Machthaber Venezuelas, vor dem sie geflohen sind: Er erkennt Wahlniederlagen nicht an. Er kommandiert Schlägertrupps. Er verehrt andere Autokraten und hetzt gegen Fremde. "Trump nennt uns pauschal Kriminelle, dabei ist er selbst einer, sogar verurteilt."

Flucht ohne Ende
Vater Pedro mit Tochter auf dem Arm überqueren den Fluss Rio Grande
© Nicolò Filippo Rosso

Eine Frage treibt Tonito besonders um: Kann es sein, dass Migranten wie er der Grund für Trumps Wahlsieg sein werden? Und dass Trump sie dann nach dem Wahlsieg deportiert?

Venezuela: Kilometer null der Flucht

Die Geschichte der Tonitos ist eine uramerikanische, nicht anders als die der Iren und Deutschen, die vor Armut und Verfolgung in die USA flohen – und nicht so anders als die der einst armen Schottin Mary Anne MacLeod, der Mutter von Donald Trump.

Sie begann im Jahr 2017 mit einer Unterschrift. Pedro Tonito, Schuster in der Kleinstadt Los Teques, unterschrieb einen Aufruf der Opposition gegen eine Verfassungsänderung, die dem Präsidenten Maduro umfassende Rechte geben sollte. Er war die Korruption leid, die Not und dass immer nur systemtreue Familien Lebensmittelhilfe erhielten.

Schon bald bekam er Besuch von "Colectivos", Schlägertrupps der Regierung, und wurde so übel zugerichtet, dass er fast starb. Für Pedro Tonito war es der erste Überlebenskampf von vielen, die folgen würden. Und er wusste sofort: Meine Familie ist nun ausgeschlossen von jeder Hilfe, wir müssen weg. Seine Frau Adriana war schwanger mit ihrem dritten Kind, Izzi, aber sie hatten keine Wahl.

Die Tonitos machten sich auf die Flucht – Vater, Mutter, die Töchter Fedra, 14, und Mariana, 9 – wie mehr als sieben Millionen Venezolaner, die größte Fluchtwelle des 21. Jahrhunderts. Etwa ein Viertel der Bevölkerung hat das Land verlassen, die meisten ins Nachbarland Kolumbien – wie zunächst auch die Tonitos.

Kolumbien: Kilometer 850 der Flucht

Die Familie siedelte in einem Armenviertel der Grenzstadt Cúcuta. Pedro arbeitete als Schuster und Möbelbauer, unterbezahlt wie so viele Migranten, Adriana verkaufte Kaffee aus einem Handwagen. Sie lebten in einer einfachen Hütte zur Miete. Aber sie waren in Sicherheit. Zunächst.

Irgendwann jedoch warf der Sohn eines Gangleaders ein Auge auf die damals 16-jährige Fedra, und sie ließ sich auf ihn ein, auf ein Leben mit Mopeds und den neusten Smartphones.

"Ich war naiv", sagt sie heute am Telefon. "Ich dachte, ich könnte meiner Familie helfen."

"Es war der Druck", sagt ihre Mutter Adriana. "Wenn ein Bandenmitglied ein Mädchen will, bekommt er es. Es ist das Gesetz der Ghettos."

In der Tat gilt dies für viele Länder, für Ecuador und Mexiko, für die Favelas in Brasilien und die Colonias in El Salvador. Die Macht der Gangs erstreckt sich nicht nur auf Drogenhandel und Lokalpolitik, sondern auch auf die Herrschaft über Frauen und Mädchen.

"Ich habe unendlich gelitten", sagt Pedro im Rückblick. "Ich habe der Beziehung nicht zugestimmt."

Er wurde bedroht, und so beschlossen die Tonitos, wieder aufzubrechen, nicht zuletzt, um die jüngere Tochter Mariana vor demselben Schicksal zu bewahren.

"Du kommst mit", befahl er Fedra.

"Ich bleibe", sagte sie.

"Ich stand zwischen meinen Töchtern", sagt Pedro heute, den Tränen nah. "Es ist die schlimmste Entscheidung, die man als Vater treffen kann."

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Die Tonitos sind eine Familie, sie sind Migranten – aber sie sind auch: ein Spielball der Politik
© Nicolò Filippo Rosso

Wie sieht seine Tochter das heute?

"Ich wollte mit", sagt Fedra, "aber ich hatte Angst, dass die Bande uns aufspürt und dann alle tötet."

Die Flucht aus Cúcuta wird ihr erst später gelingen.

Darién Gap: Kilometer 2200 der Flucht

Wohin jetzt, überlegten die Tonitos. Am besten in die USA, Ziel von so vielen Venezolanern. Aus Gründen der Sicherheit. Aber auch der Freiheit.

Für eine bessere Zukunft.

Es sind die Argumente etlicher Migranten, von Albert Einstein und Elon Musk, von Trumps deutschem Großvater und Harris’ indischer Mutter, von Bidens irischen Vorfahren und der Slowenin Melania Trump, von vielen, die jetzt schreien, das Boot sei voll.

Der Treck gen Nordamerika führt durch den Darién Gap, den straßenlosen Dschungel im Grenzgebiet zwischen Kolumbien und Panama. Lange war er schier undurchdringbar, doch längst schneidet ein breiter Trampelpfad durch den Regenwald, ausgetreten von Millionen Flüchtenden aus aller Welt, die die Gefahren mithilfe von Menschenschmugglern auf sich nehmen.

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Im Frühjahr 2023 werden die Tonitos von der Grenze zu Mexiko nach New York gebracht
© Nicolò Filippo Rosso

300 Dollar pro Person müssen die Tonitos an die Schleuser zahlen. Bis in die USA werden insgesamt 24 000 Dollar Zwangsgelder hinzukommen. Zwei Tage lang marschieren die Tonitos ohne Essen durch die Sümpfe. "Mir war schwindelig vor Hunger", erzählt Adriana. "Die Kinder sagten: ‚Wir können nicht mehr.‘ Da musst du als Mutter umso mehr können."

Adriana Sánchez, 40, ist eine kleine, resolute Frau, Mutter von nunmehr vier Kindern, meist wortkarg neben ihrem Mann, aber offen, wenn man sie allein spricht. "Ich trage genug Traumata für zehn Leben mit mir herum", sagt sie, "aber beschweren lässt dich nicht überleben."

Für die Tonitos endet der Treck durch den Darién Gap fast tragisch. Für die Durchquerung eines Flusses bindet Pedro seine Tochter Izzi auf den Rücken, doch die Strömung reißt sie mit. Andere Migranten retten sie im letzten Moment.

"Ich denke jede Nacht daran", sagt er.

"Ich auch", sagt die kleine Izzi, 6. "Ich denke an die Toten."

"Wir haben Leichen gesehen", erklärt ihre Mutter, "auch die Kinder."

Insgesamt fünf Mal triff der stern Familie Tonito in New York, jedes Mal wählen sie venezolanische Restaurants aus, aus Heimweh. Sie bestellen Arepas, Bohnen, Kochbananen, das Standardgericht ihrer Heimat. Sie halten als Familie zusammen, gestärkt durch die Not und den Glauben. "Wir haben so viel durchlitten, Gott wird schon einen Plan für uns haben", sagt Pedro.

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Sie kommen zunächst in Queens unter und treffen sich immer wieder mit einer Anwältin, die sie bei ihrem Asylantrag unterstützt
© Nicolò Filippo Rosso

In Panama kommen sie bei einer indigenen Familie unter und arbeiten für die Schleuser, um Geld fürs Weiterkommen zu verdienen, zehn Dollar für eine Tour, zehn Mal pro Tag, sechs Monate lang, 18 000 Dollar.

Pro Person, so rechnen sie vor, müsse man mit 6000 bis 18 000 Dollar Fluchtkosten rechnen, Chinesen und Afrikaner zahlen mehr, Venezolaner am wenigsten. Migration ist längst eine Industrie, die Milliarden abwirft für Fährleute und Busfahrer, für Polizisten und Leichenbestatter, vor allem für das organisierte Verbrechen.

Mexiko: Kilometer 4600 der Flucht

In Mexiko erwartet die Tonitos der gefährlichste Teil der Odyssee. Schon bei der Einreise in Tapachula werden sie verhaftet, eine Schikane der Polizei, um das mickrige Gehalt aufzubessern. Sie kaufen sich frei, müssen aber immer wieder neue Zwangsgelder zahlen, vor allem an Drogenkartelle, die den Menschenschmuggel kontrollieren.

"Die größte Gefahr droht Frauen, die allein vor ihren gewalttätigen Männern fliehen", erzählt Adriana. "Wir haben gesehen, wie sie aussortiert und missbraucht wurden. Eine meiner Freundinnen wurde entführt. Verwandte mussten ihr Haus in Venezuela verkaufen und das Geld überweisen, damit sie freikam."

Als wieder das Geld ausgeht, fahren die Tonitos die letzten 800 Kilometer bis zur US-Grenze auf dem Dach eines Güterzugs weiter, genannt "La Bestia", die Hauptroute vieler Migranten. Er wird auch "Tren de la Muerte" genannt, der Todeszug, weil viele Passagiere abrutschen und sterben oder Gliedmaßen verlieren. Die Eltern nehmen die Kinder in die Mitte und bedecken sich mit Tüchern und Laken. Fünf Tage sind sie in der Wüste unterwegs, in der Kälte der Nacht, in der Hitze des Tages, in ständiger Angst davor, vom Zugdach zu fallen.

"Für mich war das die größte Todesangst von allen", sagt Mariana, 16. Sie erzählt davon wie von einem großen Abenteuer, jahrelang unterwegs, auf zwei Kontinenten, ohne Schulbesuch, aber die Albträume, die sie hat, offenbaren auch eine andere Seite.

Als sie schließlich im April 2023 in der Grenzstadt Juárez ankommen, im Norden Mexikos, müssen sie untertauchen. Joe Biden hat kurz zuvor einen Deal mit der mexikanischen Regierung gemacht, um Geflüchtete festzunehmen und wieder in den tiefen Süden Mexikos zu verfrachten.

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Pedro Tonito mit seinem neu geborenen Sohn Liam in einer Bar in Queens. 
© Nicolò Filippo Rosso

Mehrere Tausend Asylbewerber kamen zu jener Zeit pro Tag über die US-Grenze. Inzwischen hat die Biden-Regierung die Zahl auf 1500 pro Woche beschränkt, gemäß einer Exekutivverfügung, die Präsident Trump 2018 so ähnlich erlassen hatte. Damals hatten die Demokraten sie noch als ausländerfeindlich kritisiert.

Auf seine ureigene Weise hat Trump nicht nur die Macht über die Republikaner übernommen, sondern auch über die kollektive Seele Amerikas. Es ist eine der vielen Wirrungen dieser Schicksalswahl 2024: Die Demokraten eifern Trump nach, um Trump zu vermeiden.

Texas: Kilometer 7600 der Flucht

An einem sonnigen Tag im Frühjahr 2023 wandern die Tonitos drei Stunden durch die staubige Wüste und überqueren den Rio Grande an einer Stelle, wo keine Mauer und kein Zaun mehr steht. stern-Fotograf Nicolò Filippo Rosso begleitet sie bis zur Flussmitte, dann muss er zurück.

"Papa, wo gehen wir jetzt hin", fragt Izzi.

"In ein besseres Leben", antwortet ihr Vater. "Diesmal wirklich."

Auf texanischer Seite, nicht weit von El Paso, melden sie sich bei der Grenzpolizei und beantragen Asyl. Das Schutzprogramm TPS (Temporary Protected Status) gibt ihnen als Venezolanern das Recht, vorübergehend in den USA zu bleiben.

"Ein unfassbares Gefühl nach sieben Jahren voller Angst", erinnert sich Pedro Tonito.

Die Familie wird erst in ein Aufnahmelager gebracht, zwei Wochen später nach San Antonio zu einem weiteren Verhör. Dort wird ein Asylverfahren angesetzt – in Chicago. Und ein Transfer. Nach New York.

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In dem New Yorker Bezirk lebt die Familie seit über 16 Monaten im Hotel. New York war nie ihr Ziel. Jetzt versuchen sie, es zur Heimat zu machen
© Nicolò Filippo Rosso

New York: Kilometer 11 000

New York war nie der Traum der Tonitos, anders als für viele andere Einwanderer. Dennoch sind sie überwältigt, als sie in der Stadt ankommen: die Wolkenkratzer, die Freiheitsstatue. Auf ihrem Sockel steht das Leitmotiv der Stadt und, für lange Zeit, dieses Landes: "Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren."

"Das sind wir", sagt Adriana.

Den Tonitos wird ein Hotelzimmer in Queens zugeteilt, 15 Quadratmeter für vier Personen, weniger als je zuvor in ihrem Leben. Das ganze Hotel ist überfüllt mit Venezolanern, genauso wie die Zeltstädte in der Bronx und Brooklyn. Mehr als 200 000 Migranten sind seit 2022 in der Metropole angekommen, die meisten aus Venezuela.

Damals, in den Interviews, waren sie noch voller Hoffnung, vor allem Dankbarkeit: "Wir wollen etwas leisten, etwas zurückgeben", sagte Pedro. "Ich war früher Soldat, ich habe viel Disziplin. Wir werden Musterbürger sein."

Sie werden in ein Programm namens Migrant Relocation Assistance aufgenommen. Ein Haus in der Stadt Buffalo, mietfrei für ein Jahr – das verspricht man ihnen. Es sei ein Win-win-win: Ihr besiedelt die entvölkerten Gegenden des Rostgürtels. Dafür gibt der Staat New York euch ein leer stehendes Haus. Und die Stadt New York City ist nicht mehr überlastet.

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Für einen kurzen Moment, Herbst 2023, noch vor dem Wahlkampf, zeichnet sich die Verwirklichung des großen Traumes ab: ein Haus, Jobs, gute Schulen, Sicherheit, das, wonach Milliarden Menschen streben. Der American Dream in abgespeckter Form.

Als Venezolaner erhalten die Tonitos eine vorübergehende Arbeitserlaubnis. Die Politik hat eingesehen, dass Menschen Geld und Beschäftigung brauchen. Vor allem aber gibt es einen großen Bedarf an Tagelöhnern, Küchenhilfen, Putzkräften – Jobs, die kein Amerikaner mehr macht.

Adriana nimmt eine Stelle als Putzfrau an, wird jedoch schwanger und entlassen. Pedro arbeitet auf dem Bau, muss aber erleben, dass ihm für das Streichen eines ganzen Hauses nur 200 Dollar ausgezahlt werden statt der versprochenen 2000.

So lernen sie schnell die Tücken des amerikanischen Kapitalismus kennen: Es gibt viele Angebote und Versprechungen, aber auch Betrug und Ausbeutung, vor allem von Neuankömmlingen. Seitdem putzt Pedro Unterkünfte für Migranten, für einen Stundenlohn von 17,50 Dollar.

Wir treffen uns häufiger in diesen Monaten, und bei jedem Treffen nimmt der Mut der Tonitos ab – und die ausländerfeind-liche Rhetorik der Politiker zu. Einmal gehen wir in der Kälte durch ein Viertel in Queens, das Little Caracas heißt, weil hier inzwischen so viele Venezolaner leben. Die Kinder sprechen die ersten Worte Englisch. In den Straßen liegt Schnee. Der Unterschied zu ihrem Heimatort Los Teques beträgt 50 Grad Celsius. New York City liegt ausgebreitet vor ihnen in seiner grauen Winterschwere. Da äußert Pedro zum ersten Mal: "Wir vermissen Venezuela sehr. Wir denken an eine Rückkehr."

Trotz Maduro?

"Wir hoffen auf sein baldiges Ende. Wenn Trump gewinnt, hat er ohnehin Massendeportationen angekündigt. Dann müssten wir untertauchen. Das stehen wir nicht durch. Wir wollen mal wieder leben, nach sieben Jahren auf der Flucht."

Fedra, die älteste Tochter, hat sich inzwischen bis Monterrey durchgeschlagen, an die Grenze zu Texas. Doch fast über Nacht hat das Weiße Haus Ende September seine Politik erneut verschärft. Venezolaner, denen in den USA bisher temporär Schutz gewährt wurde, sollen nur noch bis September 2025 bleiben dürfen. So haben die Tonitos innerhalb kürzester Zeit die gesamte politische Wende am eigenen Leib erfahren.

Flucht ohne Ende
Ein wenig Balsam sind die regelmäßigen Besuche in einer evangelikalen Kirche
© Nicolò Filippo Rosso

"Ich warte seit sechs Monaten auf meinen Asyltermin, ich kann nicht mehr", sagt Fedra im Videotelefonat. "Ich werde auf eigene Faust über die Grenze gehen."

Die Durchquerung der Wüste dauert mehrere Tage, wendet ihr Vater ein. Man verirrt sich leicht. Viele Migranten sterben in der Wüste.

"Ich muss es versuchen", entgegnet sie. "Ich will zu euch."

Oktober 2024

Durch die Häuserschluchten von Queens weht kühler Wind. Der zweite Winter steht vor der Tür. Die Familie lebt immer noch im Hotel, seit 17 Monaten, in einem kleinen Zimmer, ohne Herd, inzwischen zu fünft, Liam kam am 11. August zur Welt.

Von dem Haus in Buffalo ist keine Rede mehr. Die Behörden kommen nicht hinterher. Bei Nachfragen des stern verweist eine Behörde auf die nächste, schließlich heißt es: "Wir sind komplett überlastet. Das Geld fehlt. Nicht einer Familie konnte bisher geholfen werden." Inzwischen haben die Tonitos erfahren, wie es anderen Migranten ergeht, die die amerikanische Provinz wiederbeleben sollten. Nachdem Trump verbreitete, dass Haitianer in Springfield, Ohio, Hunde und Katzen töten, haben sie Morddrohungen erhalten. Genauso wie Venezolaner in Aurora im Bundesstaat Colorado, die Trump pauschal Gangmitglieder und Mörder nannte und hinzufügte: "Es liegt in ihren Genen."

Es ist eine Sprache, die sich kaum noch von der der Nazis unterscheidet.

In New York haben erste Demos gegen Migrantenunterkünfte stattgefunden. Die "New York Post" wettert gegen venezolanische Gangs. Selbst die Wahlspots der Lokalpolitiker drehen sich plötzlich um zu poröse Grenzen und zu hohe Kriminalität.

Die Tonitos verstehen nicht alle Spots, aber sie sehen die dunklen Bilder von der Grenze, die dramatische Musik, die Festnahmen von Migranten. Offene Feindschaft ist ihnen in New York nicht begegnet, keiner sagt "Ausländer raus". Und doch treffen sie auf ein Land, das ein Comeback erlebt von Nationalismus und Isolationismus.

Wenn der Sehnsuchtsort aller Einwanderer ruft, das Boot sei voll, dann hat sich etwas verschoben in der Welt.

Laut Umfragen befürworten mehr als 50 Prozent der Amerikaner Massendeportationen, wie sie Donald Trump fordert. 60 Prozent unterstützen seine Abschottungspolitik. Bei keinem Wahlthema liegt er so klar vor Harris wie bei der Migration.

Nur die Kinder sind voller Tatendrang. Izzi spricht am besten Englisch, sie mag Softball und will Flugbegleiterin werden. Mariana will sich mit ihrem ersten Freund ein Mofa zulegen und Pizzabotin werden.

Pedro Tonito spricht den fatalen Satz: "Ich weiß nicht, ob wir sicher sind, wenn Trump gewinnt. Vielleicht ist die Rückkehr tatsächlich besser."

Aber hätte dann nicht Trump mit all seiner Hetze sein Ziel erreicht?

"Meine Aufgabe ist der Schutz der Familie", entgegnet Pedro.

Und falls Harris gewinnen sollte?

Er überlegt einen kurzen Moment und sagt dann: "Ich weiß nicht, ob das noch einen großen Unterschied macht."

Erschien in stern 43/2024