Anzeige
Anzeige

Flüchtlingskrise Flüchtlinge auf dem Armani-Sofa

Andreas Tölkes alltägliches Leben dreht sich um Luxus, Stil und Design. Als der Berliner hörte, wie es Flüchtlingen ergeht, die in Berlin ankommen, hat er in seiner Wohnung Schlafplätze gebaut.
Von Sophie Albers Ben Chamo

"Ich bin ein ganz kleines Licht." Diesen Satz sagt Andreas Tölke immer wieder. Er ist ihm wichtig. Weil andere so viel mehr tun, sagt er. Doch der Satz ist zu klein, um sich dahinter zu verstecken. Denn der Berliner tut etwas, das in Deutschland sehr besonders ist: Er hat sein Zuhause für Flüchtlinge geöffnet. Und bei Andreas Tölke sieht das sehr entspannt aus. Das liegt natürlich an ihm, aber auch an Müller. Müller ist sein Hund, eine liebevolle französische Dogge, die einen begeistert begrüßt, sobald man aus dem Fahrstuhl tritt. Ein nicht unwichtiges Detail, vor allem in Kombination mit der großen, nackten Frau in der Wohnung. Aber dazu gleich mehr.

Tölke ist 55 Jahre alt und verdient sein täglich Brot mit Luxus-Journalismus. Mal diskutiert er mit der irakischen Stararchitektin Zaha Hadid über Poesie am Bau, als nächstes trifft er Filmstars, die über die Vorzüge von Gucci und Prada reden wollen. Ferien macht er am liebsten in Asien, wegen der Landschaft und der Hotels. Tölke liebt Design. Er ist Experte in Sachen guter Stil. Das zeigt jede Lampe in seinem 112-Quadratmeter-Appartment. Das zeigen die Möbel und die Kunst. Zum Beispiel das deckenhohe, Helmut-Newton-mäßige Schwarz-Weiß-Foto einer Nackten in High Heels, deren Kopf unter einer Plastikschale verschwindet. Es bedeckt die ganze Wand hinter dem Küchentisch. Der gute Stil zeigt sich aber eben auch in seinem Umgang mit Menschen. Ohne mit der Wimper zu zucken, hat Andreas Tölke Flüchtlingen sein Armani-Casa-Sofa angeboten. Das sei kein Widerspruch zu seinem Alltag, sondern Dialektik, wird er später sagen.

Helfen, aber wie?

"Mir war klar, dass ich etwas tun muss, nur nicht was", erzählt der Journalist etwas schlaftrunken am Küchentisch. Er ist seit halb sechs auf den Beinen. "Ich hasse das." Über Facebook habe er von den Zuständen vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) erfahren, wo Menschen tagelang unter freiem Himmel auf ihre Papiere warten müssen. "Draußen schüttete es." Da habe er seine Freundin Tanja angerufen, die mit vielen anderen großartigen Menschen vom privat-organisierten Projekt "Moabit hilft" die Flüchtlinge, die auf dem mittlerweile berüchtigten Gelände gestrandet sind, so gut es geht versorgt. Menschen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, dem Sudan, aus den Balkan-Ländern. Da jeden Tag Hunderte Menschen ankommen und die Behörde irgendwann schließt, kommen nicht alle dran und stehen dann auf der Straße.

"Ich habe gesagt, ich habe vier Schlafplätze. Eine halbe Stunde später standen fünf Männer in meiner Wohnung: drei Ägypter, ein Moldawier, ein Bosnier. Überraschung", sagt Tölke und lacht. Und dann kam Müller. Für Muslime sind Hunde unreine Tiere, haram, entsprechend schockiert waren die Ägypter über das anhängliche Geschöpf. Allerdings seien sie Müllers Charme schnell erlegen und hätten ihn unterm Küchentisch gestreichelt. Auch die nackte Frau an der Wand sei kein Problem gewesen, sagt der Gastgeber und zuckt mit den Schultern. "Die wollen hier leben: Sie sollen gleich sehen, was das heißt. Willkommen in Deutschland."

Drei bis neun Tage Warten

Das Abendessen, das Tölke mit einer Freundin (dass es nicht seine war, fanden die Männer ebenfalls verrückt) kochte, war dann aber doch halal. "Wenn die hier ankommen, sind sie fertig. Richtig durch den Wind", sagt er. Und obwohl sie im Sitzen einschliefen, hätten sie noch versucht, gute Gäste zu sein. Mit zweien habe er sich gut unterhalten können. Einer der Ägypter, Student der Literaturwissenschaften, spreche fünf Sprachen. Ein anderer Italienisch, weil er von den eigenen Eltern als 15-Jähriger auf einen Bauernhof nach Italien verkauft wurde. Und das war nur der Anfang seiner Odyssee. Beide waren über Lampedusa nach Deutschland gekommen. Jeder der Gäste hat ein tragisches Schicksal im Gepäck. Und sie seien froh gewesen, dass mal jemand davon hören will, sagt Tölke. Als sie am nächsten Morgen um sechs im Fahrstuhl standen, auf dem Weg zurück zum Lageso, habe er den ägyptischen Studenten gefragt, wo denn sein Gepäck sei. "Welches Gepäck?", fragte der zurück.

Gegen 5.30 Uhr wird am Lageso das Gatter geöffnet, und die Menschen beginnen, sich anzustellen. Ab acht Uhr prüfen Sicherheitsleute grob die Papiere und verteilen Nummern in der Schlange. Die werden dann in regelmäßigen Abständen in die wartende Menge gebrüllt. Ist man dran, darf man ins Gebäude zur Registrierung. Es kann drei bis neun Tage dauern, bis man aufgerufen und schließlich einem Asylbewerberheim zugewiesen wird, sagt Diana Henniges, Oberengel von "Moabit hilft". Dutzende Leute helfen seit Wochen, so viel sie können, während die Verwaltung noch plant: mit Essen und Trinken, Kleidung, Körperpflege, ärztlicher Erstversorgung und Zuspruch. Die Helfer haben Kreppklebeband auf Brusthöhe kleben, darauf steht, welche Sprachen sie sprechen und was sie können. Auch türkisch- und arabisch-stämmige Berliner helfen mit. Tölke erzählt von Lily, die jeden morgen, wenn das Gatter geöffnet wird, zur Schlange geht und die Härtefälle herauszieht: Schwangere, Menschen mit gebrochenen Gliedmaßen, extrem Traumatisierte, die nur noch apathisch ins Nichts starren. Er habe zu Lily gesagt: "Du gehörst aber auch mal in den Arm genommen". Darauf habe sie entgegnet: "Dann fange ich an zu heulen. Und ich will vor diesen Menschen nicht heulen." Was dank "Moabit hilft" vor dem Lageso passiere, sei ein neues Sommermärchen, sagt Tölke. "Und das meine ich völlig unzynisch: 'Zu Gast bei Freunden'." So wie bei ihm zuhause?

Willkommenspakete

"Ich mache das, was ich kann. Ich bin niemand, der Müll von der Wiese sammelt. Aber ich lebe allein in einer großen Wohnung. Ich bin nicht der Retter des untergehenden Sozialstaats. Was ich rüberreiche, ist ein Pfund Liebe und Respekt." Und dann sagt Tölke mit seiner wunderbaren Ehrlichkeit: "Das ist nicht leicht, wenn die reinkommen und riechen komisch. Deshalb gibt es ein Willkommenspaket. Deo, Shampoo, weißes Handtuch. Menschenwürde fängt beim Körpergeruch an."

Die nächsten Willkommenspakte gehen an Familie Habibi aus Afghanistan. Die Männer sind nur eine Nacht geblieben. Fünf Leben stapeln sich im Flur, in sechs Koffern. Zuhause hatten die Habibis ein Geschäft, sie waren selbständige Unternehmer. Doch wie macht man Geschäfte, wenn weder Verkäufer noch Kunde sicher sein können, lebend in den Laden zu kommen? Sechs Freunde wurden in den letzten Wochen erschossen, berichten sie. Einfach so auf der Straße. Da hat Familie Habibi ihr Leben eingepackt. Die 80-jährige Großmutter sitzt am Küchentisch und schaut unbewegt auf die große Nackte, während Vater, Mutter und die zwei Söhne zu verstehen versuchen, was Muskatnuss ist, die Tölke in den Kartoffelbrei reiben will. Als er den Habibis erklärt, dass sie am nächsten Tag auch Geld abholen können, sagt der älteste Sohn empört: "Ich will kein Geld, ich will arbeiten."

Jeder tut, was er kann 

Im Gästezimmer nebenan stapeln sich Decken und Kissen. Ihr Zimmer sollen sie für sich allein haben, sagt Tölke. Er wolle ihnen vor allem Platz lassen, auch wenn sie da zu fünft sind. "Mein Bedürfnis als Gastgeber ist es, ihnen einen Schutzraum zu geben, Privatheit. Die fundamentalsten menschlichen Bedürfnisse, die auf der Flucht zur Ausnahme geworden sind."

Weil er immer wieder angerufen wird, wenn jemand eine Notunterkunft braucht, fragt Tölke auch seine Freunde an. "Hilla und Uwe haben eine irakische Familie aufgenommen, mein Freund Gert zwei Afghanen." Aber, und das sagt er mit großer Entschiedenheit: "Es darf keine moralische Kategorie sein. Keiner, der hilft, ist ein besserer Mensch. Man muss sich nicht entschuldigen, wenn man niemanden aufnimmt. Man kann einfach Nein sagen. Ich liebe meine Freunde trotzdem. Jeder tut, was er kann." Er selbst wolle nur als Stellvertreter für all die stehen, die viel mehr tun als er. "Und für die schweigende Mehrheit in diesem Land, die nicht pöbelt, droht und Häuser anzündet. Die keine Angst hat, dass ihnen der Flatscreen geklaut wird."

Das Telefon klingelt, und Tölke geht in den Flur. Als er zurückkommt, sagt er mit einem breiten Lächeln: "Das war meine Freundin Ulrike. Sie hat in ihrer Wohnung Platz für drei Leute gemacht. Sie sitzt im Rollstuhl."

Noch so ein "kleines Licht".

Mehr zum Thema:

Fünf Klicks, die sich lohnen (Wenn Sie selbst helfen möchten)

Ein Tagebuch von einem Lageso-Helfer (Berliner Rundfunk)

Moabit hilft!

Mehr zum Thema

Newsticker

VG-Wort Pixel