Da stehe ich also am Flughafen und denke: Ich bin doch die letzte Umweltsau. Wahrscheinlich sind alle anderen, die ich kenne, längst geheilt vom Fliegen, weil sie das viele Reden über die Klimakatastrophe überzeugt hat. Zumal sie auch selbst immer wieder über die Klimakatastrophe reden. Ich verzichte auf einiges, aber ich gebe zu: Das Fliegen völlig sein zu lassen, das fiele mir schwer. Obwohl das Fliegen in diesen Wochen tatsächlich so zäh geworden ist wie sonst das Bahnfahren.
Mein Flieger hat natürlich Verspätung; niemand ist am Schalter, den ich fragen könnte. Fast im Stundentakt hören wir Schreckliches über die Zustände an den Flughäfen: Personal fehlt an allen Stellen, Gepäck kommt nicht an, oder der Flieger wird einfach abgesagt
So bleibt der Verzicht oft nur ein Lippenbekenntnis
Als ich meinen Twitter-Account öffne, bin ich überrascht: Ich bin alles andere als die letzte Umweltsau. Da posten unzählige Menschen von allen möglichen Flughäfen über ihre Wutanfälle. Viele beschweren sich darüber, dass die Absagen der Airlines zu spät kamen, die Ausreden so schlecht waren. Bei einigen Twitter-Nutzern bin ich jedoch überrascht, dass sie überhaupt fliegen. Normalerweise kenne ich sie eher als Verzichtsprediger. Und jetzt machen sie in ihrer Wut öffentlich, dass sie sogar Distanzen fliegen, die man mit dem Zug eigentlich ganz gut erreichen kann, die nicht einmal ich fliegen würde? Meinen die Leute, die so überzeugt übers Verzichten reden, etwa das Verzichten der anderen?

Jagoda Marinić
Die Schriftstellerin und Politologin Jagoda Marinić („Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?“, „Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“) schreibt alle zwei Wochen – im Wechsel mit Micky Beisenherz – im stern.
Verzicht ist in unserer Überflussgesellschaft zu einem Aushängeschild für politisches und ökologisches Bewusstsein geworden. Wer zu viel hat, von dem ist Verzicht doch nicht zu viel verlangt. Doch es geht nicht nur um das Verzichten auf privilegierte Dinge wie Fliegen. Der Grünen-Politiker Robert Habeck will mit diesem Verzichtsbegriff sogar Putin den Kampf ansagen. Kämpfen sollen wir Bürgerinnen und Bürger, etwa indem wir kürzer duschen, weniger heizen, all das. Wahrscheinlich wird uns bald zu Rohkost only geraten. Sicher, das Thema Energie in Zeiten des Krieges war noch nie einfach.
Habeck bleibt die Erklärung schuldig
Was Habeck leider nicht so deutlich erklärt: Ganz gleich, wie viel wir verzichten – angesichts des derzeitigen Preisanstiegs wird das Verzichten eines sicher nicht erreichen: Wir werden kein Geld sparen. Statt das zu erläutern, wirft er locker in den Raum, das Verzichten der Bürger müsse man nicht immer mit einem 50-Euro-Schein belohnen. Für diese ungeschliffene Äußerung bekam er viel Applaus. Seine Rechnung geht jedoch nicht ganz auf, weil die 50 Euro für sehr viele Menschen in unserem Land eben kein Bonus wären, sondern eine Hilfe, um über die Runden zu kommen. Der Applaus kam wahrscheinlich von all jenen, für die 50 Euro ohnehin kein echter Anreiz wären. Menschen, denen die Teuerungen zwar Sorgen, aber keine schlaflosen Nächte bereiten.
Wo Armut herrscht müssen Menschen verzichten
Der neue Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands ist gerade erschienen, und es müsste allen klar werden: Verzicht bleibt in einer Gesellschaft, die so gespalten ist wie die deutsche, ein schwieriger Ansatz. Trotz steigender Sozialausgaben wächst die Armut in Deutschland mit erschreckender Geschwindigkeit. Altersarmut, Kinderarmut, die Armut alleinerziehender Mütter. Wenn in einigen Gegenden von Deutschland fast jeder Fünfte an der Armutsgrenze lebt, worauf sollen diese Menschen noch verzichten?
Wenn eine bestimmte Klasse mit guten Ausreden auf den Verzicht verzichtet, etwa weiterhin den Flieger nimmt, verwandelt sich eine Verzichtsdebatte bald in eine Neiddebatte: Warum dürfen die und wir nicht? Darauf könnte ich gut verzichten.