Durch manchen Text von Bertolt Brecht habe ich mich als junger Mensch quälen müssen. Aber seine "Geschichten vom Herrn Keuner" haben mich immer wieder gepackt, vor allem die wohl bekannteste: "Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: 'Sie haben sich gar nicht verändert.' 'Oh', sagte Herr K. und erbleichte."
Es ist eine Geschichte über Veränderung und darüber, wie notwendig, womöglich lebensnotwendig diese ist. Wir Deutschen haben uns mit Veränderung immer schwergetan, die im Ausland belächelte "German Angst" kreist auch um unsere Sorge vor zu viel Umbruch. Selbst wer aber der Meinung ist, den Deutschen könne ein bisschen mehr Veränderung, vielleicht gar ein Veränderungsdruck ganz guttun, muss am Ende dieses Jahres fragen: Reicht es jetzt nicht mal mit der Veränderung?
Schmerzhafte Erkenntnis
Die "Zeitenwende" hat Olaf Scholz (ein neuer Kanzler nach 16 Jahren Angela Merkel, noch so eine Veränderung) in diesem Jahr ausgerufen. Es ging ihm dabei vor allem um eine neue Sicherheitslage und die – milliardenschwere – Neugewichtung von Sicherheitsinteressen, angesichts des Umstands, dass Krieg, sogar Atomkrieg, auf einmal in Europa wieder ein Mittel der Politik ist respektive sein könnte. Aber die Zeitenwende schien dann mit einem Schlag überall zu gelten: Wir mussten begreifen, dass Wärme und Strom nicht einfach aus dem Heizkörper und der Steckdose kommen und auch nicht mehr zwangsläufig billig sind. Wir mussten lernen, dass die Geldentwertung – noch eine deutsche Urangst, derart ausgeprägt, dass in der Vergangenheit Bundesbürger in Umfragen bekundeten, sie fürchteten die Inflation mehr als eine lebensbedrohliche Krankheit – wieder in einer Weise vorkommen kann, dass man den Preisen beim Steigen zuschauen und ein Supermarktbesuch zur Mutprobe werden kann.
Und am Ende dieses verrückten Jahres (das an zwei vorherige Jahre anschließt, die auch schon als sehr belastend und verrückt bezeichnet wurden) mussten wir dann noch erfahren, dass selbst eine Fußballweltmeisterschaft nicht mehr nur ein Sommermärchen, sondern auch ein Winteralbtraum sein kann. So überschattet war diese WM von Debatten um Werte und Vorurteile und vor allem von Diskussionen um Mammon und Mauschelei, dass man sich nicht mehr nur fragte: Will man zuschauen? Sondern: Darf man noch zuschauen?
Von Zukunftswünschen und kleinen Zeitenwenden
Was wünscht man am Ende eines solchen Jahres? Ist es, eingedenk all dieser Erfahrungen, überhaupt noch angebracht, ein "Frohes neues Jahr" zu wünschen, oder ist das zynisch, lädt es nur zum Lachen ein? Wir dürfen nicht vergessen, dass jede Erfahrung eines Jahres auch eine sehr einzigartige ist.
Unser Politikchef Nico Fried, ein lebensweiser Herr, schreibt dazu in dieser Ausgabe, es sei nicht zu unterschätzen, wie individuell die Bilanz eines Jahres ausfalle: "Geburt und Tod und manchmal auch beides bestimmen für viele Menschen den Rückblick viel mehr als eine politische Stimmungslage. Die einen heiraten, die anderen werden geschieden, die einen treten neue Jobs an, andere verlieren ihre. Für einen Pendler mag 2022 dominiert gewesen sein von dauernden Zugverspätungen. Der Kunst-Fan beklagt den Verlust seiner Documenta, wie er sie kannte, der Bayern-Fan den Abgang von Robert Lewandowski. Und die Twitter-Community diskutiert nach dem Einbruch von Elon Musk in ihr Revier, ob alles bleiben kann, wie es ist, eine Frage, die Amber Heard und Johnny Depp vor Gericht entscheiden ließen …" Auch im Kleinen sei halt schnell mal Zeitenwende, resümiert Fried. Also wünsche ich Ihnen, jedem ganz individuell, nur das Beste für Ihr neues Jahr.
Herzlich Ihr

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