40 Tage allein überlebt Hollywood jagt die Dschungelkinder – der Kampf um die Filmrechte nach dem Wunder im Regenwald

Ein Mann, Manuel Ranoque, der Vater der geretteten Kinder, steht auf einem Balkon und blickt in die Ferne
Der Vater der geretteten Kinder, Manuel Ranoque, will sich einen Anwalt nehmen: "Es sind meine Kinder, die im Urwald überlebt haben. Jetzt, da die Kinder gefunden wurden, wollen alle Ruhm. Aber sie sind meine Kinder. Es ist ihre Geschichte. Ich entscheide."
© Jonas Wresch
Nach der Rettung der vier verschollenen Kinder im Amazonas hat die nächste Jagd begonnen. Wer sichert sich die Filmrechte? Wer dreht die erste Doku? Und wer trifft Entscheidungen für die Kinder? 

Es sind eigenartige Szenen, die sich da in der Lobby des Hotels Macao im Zentrum von Bogotá abspielen. Rechtehändler und Filmagenten gehen rastlos ein und aus. Ungeduldig warten sie in ausgesessenen Ledersofas auf die Ankunft von Indigenen. Und kaum erscheinen die, stürzen sie sich auf die Ureinwohner und wollen Exklusivverträge abschließen. Vor allem mit dem Vater der geretteten Kinder. Und dem Schamanen. Und den vier Indigenen vom Volk der Witoto, die die verschollenen Kinder nach 40 Tagen Suche im Regenwald gefunden haben.  

Am liebsten mit allen gleichzeitig.   

Ein großer blonder Mann ist unter den Lauernden, der sonst für CNN arbeitet. Eine Journalistin, die die Zugänge für einen peruanischen Regisseur sichern soll. Eine weitere Frau, groß und blond, die dem Vater der vier "Dschungelkinder", Manuel Ranoque, angeblich einen guten Anwalt vermitteln will. Auch Netflix hat seine Vertreter in Bogotá, Warner Brothers, National Geographic, der Klatschkanal TMZ. Der Verlag Random House soll schon ein Buch in Auftrag gegeben haben. Angeblich 13 Medienunternehmen wollen sich den Stoff des Jahres sichern. Ob als Dokumentarfilm. Als Biopic. Als Spielfilm. Als "Survival Thriller". Als modernes Märchen: Vier indigene Geschwister, zwischen ein und 13 Jahren alt, überleben 40 Tage allein im Dschungel.

Der Präsident von Kolumbien hat eine Entscheidung getroffen

Eine Nachricht aus Kolumbiens Präsidentenpalast hat die Leute der Filmbranche aufgeschreckt. Auf Twitter hat Staatspräsident Gustavo Petro verkündet: "Ich habe mich mit dem zweimaligen Oscargewinner Simon Chinn und dem Sender RTVC getroffen, damit sie den Dokumentarfilm "Operación Esperanza" (Operation Hoffnung) produzieren." Petro hat ein Foto dazu gestellt, das ihn Arm in Arm mit Chinn, dem Regisseur von Filmen wie "Man On Wire" und "Searching for Sugarman" zeigt. Die Vereinbarung umfasst nicht nur Archivmaterial und Interviews mit Vertretern der kolumbianischen Regierung, sondern auch mit dem Militär, mit Kommandanten und Einsatzleitern der Spezialeinheit CCOES, die halfen, die Kinder zu finden.  

Kolumbien: General Pedro Sánchez schaut ernst
General Pedro Sánchez, der Leiter des Rettungseinsatzes
© Jonas Wresch

Die beteiligten Elitesoldaten halten sich mit Äußerungen gegenüber den Medien bereits zurück. "Einige Details müssen wir für uns behalten", sagt General Pedro Sánchez, der die "Operation Hoffnung" leitete, dem stern. Fürs Fernsehen soll ab sofort kein Interview mehr mit Scheinwerfern, Mikrofonen und großem Aufwand stattfinden. Das bekomme ab jetzt nur noch Chinn. Wie er das findet, will Sánchez nicht kommentieren, aber er glaubt, dass die herzerwärmende Geschichte seinem Land gerade guttue. 

Eliecer Muñoz
Eliecer Muñoz war einer der Indigenen, der an der Rettung der Kinder maßgeblich beteiligt war
© Jonas Wresch

"Wie kann der Präsident das machen?", regt sich dagegen Eliecer Muñoz auf. "Wir haben da ein Wort mitzureden. Ohne uns hätte es die Rettung gar nicht gegeben." Der Indigenenführer aus dem Süden Kolumbiens hat die vier Kinder am 9. Juni gemeinsam mit drei Stammesbrüdern im Urwald gefunden, fünf Kilometer von der Absturzstelle des Flugzeugs entfernt. Er trifft sich im Hotel Macao zum Interview mit dem stern und zeigt sich empört, dass der Präsident keinen von ihnen gefragt hat. "Der Präsident hat uns Ureinwohner gerade eben noch sehr gelobt. Aber er hält es nicht für nötig, uns bei der Vermarktung der Story miteinzubeziehen." 

Offene Kritik am Präsidenten gibt es auch von der Organisation Opiac, die die indigenen Völker der Amazonasregion vertritt. "Wir bringen unsere Ablehnung zum Ausdruck gegenüber dieser Produktion des Dokumentarfilms. Es handelt sich um eine einseitige Entscheidung der Regierung, die ignoriert, dass es Indigene waren, die die Suche initiierten, noch vor den Militärs."

Doch auch die Indigenen haben eine Entscheidung getroffen 

Auch Muñoz' Kameraden sind enttäuscht. Aber beeindrucken lassen sie sich von der präsidialen Entscheidung nicht. "Wir treffen unsere eigene Entscheidung, mit wem wir verhandeln und wer die Filmrechte bekommt", sagt José Rubio, der Schamane, der die indigenen Suchtrupps im Urwald auf die richtige Fährte brachte. "Ich habe sogar meinen Orden weggeben, den ich für die Beteiligung an der Suche erhielt. Der hat nur für Militärs Bedeutung. Nicht für uns Indigene. So ist das auch mit Filmrechten."  

Einige Indigene haben bereits drei Exklusivverträge unterschrieben. Sie haben das Geld eingesackt und sind zurück in den Amazonas gefahren. 

Bei der Ordensverleihung im Präsidentenpalast Ende Juni wurde schon der erste kleine Film eingespielt, auf einer Großbildleinwand, etwa sieben Minuten lang. Eine Art Showdown der Suche. Mit dramatischer Musik. Und digital eingespieltem Regen. Die amerikanische Klatsch-News-Site TMZ hat schon eine Mini-Serie produziert, für Hulu und Fox News – "The Miracle Children of the Amazon." Keiner hat irgendwelche Rechte an dem Stoff, dennoch laufen die ersten mediokren, oberflächlichen Filme schon, groß beworben auf Youtube. 

Die große Frage bleibt: Wem gehört die Geschichte?

Den Vater der Kinder, Manuel Ranoque, ärgert das sehr. "Das ist meine Geschichte", sagt er im Interview mit dem stern. "Es sind meine Kinder, die im Urwald überlebt haben. Jetzt, da die Kinder gefunden wurden, wollen alle Ruhm. Aber sie sind meine Kinder. Es ist ihre Geschichte. Ich entscheide. Ich nehme mir einen Anwalt", kündigt er an.  

Das ist die Hauptfrage: Wem gehört die Geschichte? Der gesamten Öffentlichkeit, die so sehr mitgezittert hat? Der ganzen Welt? Nur den Kindern? Oder jedem einzelnen Beteiligten? 

Das führt zur nächsten Frage: Wer bekommt überhaupt das Sorgerecht? Welcher Erziehungsberechtigter entscheidet, welches Kind mit welcher Filmgesellschaft reden darf – wenn überhaupt? Ranoque liegt im Sorgerechtsstreit mit den Eltern seiner beim Flugzeugabsturz verstorbenen Frau Magdalena Mucutuy. Zudem hat sich das Jugendamt eingeschaltet und will sich sechs Monate Zeit lassen mit einer Entscheidung über das Sorgerecht. Eine Mitwirkung der Kinder bei einem Film schließt es für diese Zeit aus. 

Die Großeltern der Kinder hielten bereits den Vertrag einer amerikanischen Filmfirma in den Händen, stutzten aber, als sie die Rechte auf Lebenszeit abgeben sollten. Fátima Valencia und Narciso Mucutuy ließen nun über ihre Anwältin ein Statement verbreiten: "Wir sind dagegen, dass irgendein Medium politische oder finanzielle Vorteile zieht, die weit entfernt von der Brüderlichkeit sind, mit der wir aufgewachsen sind." Als Auflage für eine Unterschrift nennen sie unter anderem: Verbesserungen für Araracuara, das Heimatdorf der Familie. Und ein Kolumbianer müsse Regisseur des Films werden.  

Zwei Männer, einer mit verschränkten Armen, steht neben einer Frau. Eine zweite Frau sitzt daneben.
Angehörige der verstorbenen Mutter kämpfen darum, das Sorgerecht für die Kinder zugesprochen zu bekommen
© Jonas Wresch

Um alle Facetten zu erzählen, bräuchte es wohl auch alle Beteiligten

Der größte Preis, da sind sich alle Beteiligten einig, ist die Hauptperson des Dramas, Lesly Mucutuy. Mit ihr wollen alle reden. Die 13-Jährige hat ihre drei jüngeren Geschwister durch die 40 Tage gebracht und alle am Leben gehalten. Sie hat die Kleinste, Cristin, aus den Armen der toten Mutter befreit. Sie hat das Essen aus dem Flugzeugwrack geholt. Sie hat nach Samen und Früchten gesucht, nach Trinkwasser und essbaren Pflanzen. Sollte sie je über die Erfahrung reden, in einem Exklusivinterview oder für einen Dokumentarfilm, werde sie so viel Geld machen, dass es für ein ganzes Leben reicht, da sind sich alle Experten sicher. Wie es dem Mädchen gerade mit all diesen traumatischen Erfahrungen geht, interessiert sie weniger. 

Stern-Reporter: "Wie würden wir 40 Tage im Dschungel überleben – und wie machen es dann vier Kinder?"
Nach einem Flugzeugabsturz überleben vier Geschwister 40 Tage allein im kolumbianischen Dschungel. Im Video erkläret Reporter Jan-Christoph Wiechmann wie die Kinder so lange der Natur trotzten.
stern-Reporter über gerettete Kinder in Kolumbien: "Wie würden wir 40 Tage im Dschungel überleben?"

Doch Lesly redet nicht viel. Nicht mal mit ihren Großeltern, wenn die sie im Militärkrankenhaus in Bogotá besuchen, wo die Kinder immer noch medizinisch und psychologisch betreut werden. Sie ist ein eher schüchternes Mädchen, genauso wie ihre Schwester Soleiny, 9. Die Kinder haben bisher nur einige wenige Details preisgegeben: Dass sie keine Angst vor den Tieren hatten. Dass sie den Anblick der toten Mutter nicht ertrugen und die Absturzstelle deswegen verließen. Dass der Spürhund Wilson sie einige Tage lang begleitete. Viel mehr nicht.  

Am meisten geredet hat im Krankenhaus bisher Tien, der Fünfjährige, vor allem über den Tod seiner Mutter. Und dass er einen Jaguar gesehen habe. Aber sein Vater versucht, ihn dann vom Thema abzulenken. "Ich lese ihm viele Märchen vor", sagt Ranoque. Der Öffentlichkeit werde er Tien nicht zugänglich machen. 

Um die Geschichte in allen Facetten zu erzählen, bräuchte eine Filmgesellschaft wohl alle Beteiligten: Die Kinder. Die Indigenen. Den Schamanen. Den Kommandanten. Die Soldaten. Den Präsidenten. Die Großeltern. Den Vater. 

Dass sie alle für dieses eine große Filmprojekt zusammenkommen werden, ist eher unwahrscheinlich.