Bogotá. Manchmal stellt sich Osias ganz vorne ins Klassenzimmer, lehnt sich an den Türrahmen. Von hier aus kann er auch den Raum nebenan sehen und zwei Klassen gleichzeitig unterrichten. "Das Geld für Lehrer fehlt, aber ich will die Kinder nicht enttäuschen", sagt Osias. "Sie haben so viel Schreckliches erlebt." Die meisten der Kinder, die er unterrichtet, wurden mit ihren Familien aus ihren Heimatorten vertrieben, haben grausame Morde mit ansehen müssen, Verwandte und Freunde verloren.
Bewaffnete Konflikte dauern schon 40 Jahre an
Nun leben sie im Elendsviertel Altos de Cazucá, am Rande der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, in zusammen gezimmerten Wellblechhütten oder kahlen Backsteinhäusern, die sich an den steilen Berg lehnen. Ohne Heizung, ohne Kanalisation, ohne Müllabfuhr, und mit der Angst, dass die Vergangenheit sie einholen könnte. Der Konflikt hält Kolumbien seit über 40 Jahren in Schach, er begann mit dem Kampf der linken Guerilla gegen das Militär, später kamen die rechten Paramilitärs dazu. Sie brachten die Angst in die Dörfer: Vor Massakern, Morden, davor, irgendwann die Leiche eines Bekannten im Fluss schwimmen zu sehen.
Man redet besser nicht darüber, warum man nach Altos de Cazucá gekommen ist, man weiß ja nie. Denn hier treffen sich alle: Opfer der rechten Paramilitärs, der linken Guerilla, aber auch Sympathisanten beider Gruppen. Es ist eine dunkle Welt, aus der die Menschen in Altos de Cazucá kommen, sie haben kein Vertrauen mehr, weder in die Polizei, noch in das Militär, nichtmal in den Nachbarn. Denn wer weiß, ob der nicht vielleicht mit denen sympathisiert, die das eigene Dorf ausgelöscht haben. Und auch das neue Zuhause bietet keine Sicherheit: Bandenkriege dominieren das Gebiet.
Lehrer leben gefährlich
Osias bekommt kein Geld fürs Unterrichten. Er lebt von dem, was seine Lebensgefährtin als Hausmädchen verdient. Weil die meisten Schüler desplazados sind, Vertriebene, die während sie auf der Flucht waren, nicht zur Schule gingen, werden die Kinder nicht in Altersgruppen zusammen gefasst, sondern je nach Kenntnisstand in die Klassen aufgeteilt. Osias war schon immer Lehrer, auch als er in seinem Heimatort in der Provinz Chocó arbeitete, bis er dort vertrieben wurde. Ein typisches Schicksal für Lehrer in den Konfliktregionen in Kolumbien: Oft sind sie die ersten, die bedroht werden, weil sie in der Dorfgemeinschaft respektiert sind und den Eindringlingen Kontra bieten. Sei es der Guerilla oder den Paramilitärs. Die brauchen Land für ihre eigenen Leute und menschenleere Landstriche, durch die sie Drogenlieferungen schicken können.
Etwa drei Millionen Menschen sind inzwischen in Kolumbien auf der Flucht im eigenen Land, jedes Jahr kommen mehr als 200.000 dazu. Die meisten von ihnen siedeln sich am Rand der großen Städte an. Altos de Cazucá ist eins dieser Viertel: Es liegt auf der Stadtgrenze, weder die Hauptstadt noch die Provinz fühlen sich so recht zuständig. Was bleibt, ist ein Raum, in dem die Stärksten die Gesetze machen. Sie verkaufen das Land an die Ankömmlinge, für 1 Millionen Pesos, rund 346 Euro, gibt es schon eine Parzelle, aber die "Käufer" bekommen dafür keinen Papiere. Wenn jemand anders mehr Geld bietet oder die Hütte mal ein paar Tage lang leer steht, kann es sein, dass sie weiter verkauft wird.

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Magere Starthilfe für Neuankömmlinge
Osias vertritt in Altos de Cazucá den Verband Afrodes, der sich um Neuankömmlinge kümmert. Wem er nicht helfen kann, den schickt er zum UNHCR, dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, die Organisation war eine der ersten, die sich trauten, ein Büro in Altos de Cazucá zu eröffnen: Weit oben auf einem der Hügel thront das weiß angestrichene Gebäude mit dem Logo der Vereinten Nationen auf der Seite. "Die meisten Vertriebenen fliehen in die großen Städte in Kolumbien, viele auch in Nachbarländer wie Ecuador oder Venezuela", sagt Marie Hélène Verney vom UNHCR.
Die UN-Leute versuchen, Neuankömmlingen eine Starthilfe zu geben, ihnen bei der Registrierung als Vertriebene zu helfen, damit sie ein bisschen Geld vom Staat bekommen. "Viele wissen gar nicht, dass es eine Unterstützung gibt", sagt Verney. Das UNHCR fördert auch Jobinitiativen: Erst vor kurzem gab es einen neuen Erfolg. Eine Gruppe von Frauen haben sie mit einem 5-Sterne-Hotel in Bogotá in Kontakt gebracht, für das waschen und schälen die Vertriebenen nun Kartoffeln und stellen Paprika-Pasten her.
Wasser kommt mit dem Tankwagen
Heute haben Marie-Hélène Verney und eine Kollegin den Kofferraum voller Altkleider, sie bringen sie zu Elodia, die davon lebt, Second Hand-Ware zu verkaufen. Schuhe und Babykleidung sind besonders gefragt. Ihr Laden liegt an der ungeteerten Durchgangsstraße oben am Berg, von hier oben blickt man auf das Häuser- und Hüttendickicht, unten im Tal liegt die Lagune, neben der keiner mehr wohnen will. Das Wasser stinkt, zu viele Fäkalien werden hier eingeleitet. "Die Enten sind schon lange weg", sagt Elodia. Das Trinkwasser wird in einem Tanklaster gebracht, etwa alle zwei Wochen, dann füllen die Bewohner in Altos de Cazucá alle Wassertanks, Eimer und Näpfe.
Elodia musste ihr Dorf vor über 20 Jahren verlassen, als sie ein Teenager war, sie floh zusammen mit ihrer Schwester. Zurückgehen? "Unmöglich!" sagt sie. Ihre dunklen Zöpfchen sind eng an den Kopf geflochten, sie hat einen Tick blaue Wimperntusche aufgetragen, eine bunte Kette um den Hals. Und immer lächelt sie, als sei ein Lächeln der Grundzug des menschlichen Gesichts und alles andere eine Deformation. Warum musste sie gehen? Elodia antwortet allgemein: "Wenn die Guerilla kommt, Dich um ein Glas Wasser bittet, mit der Waffe in der Hand und Du es ihnen gibst, kann es sein, dass zwei Stunden später Paramilitärs kommen und Dich umbringen. Weil Du mit der Guerilla kollaborierst." Ihre Eltern wurden zu spät gewarnt, nur die beiden Mädchen konnten entkommen.
Jeder hat seine eigene Leidensgeschichte
Elodia nestelt ein klebriges Honigbonbon aus dem Papier und begrüßt eine Frau mit langen glatten Haaren und Jeansjacke, die ein kleines Mädchen an der Hand hält. Wie die meisten von Elodias Kunden hat auch Margarita eine Leidensgeschichte zu erzählen: Die 23-Jährige kam vor zwei Jahren nach Altos de Cazucá, im Heimatdorf an der Pazifikküste hatte ihre Familie einen kleinen Supermarkt. Zuerst wurde ihr Onkel umgebracht, dann der Vater bedroht. Als während eines Kampfes vor dem Supermarkt eine Gasflasche explodierte, starb ihr acht Monate altes Baby. Die fünf Kinder ihrer Schwester Carolina wurden erschossen. Heute lebt Margarita mit ihrem Vater und der 6 Jahre alten Tochter in einem Bretterverschlag, unten im Tal am Ufer des Sees. Dort, wo nicht mal die Leute im Slum wohnen wollen. "Meine Kleine hat Wutausbrüche und Angstzustände - eine Folge der Vertreibung, meint der Doktor von Ärzte ohne Grenzen", sagt Margarita. Die Angst vor der Gewalt ist Margarita und ihrer Tochter nach Altos de Cazucá gefolgt: Eine Woche zuvor wurde ihr Cousin in einer Diskothek angeschossen.
Elodia will nicht über Politik sprechen, lieber zeigt sie ihr Lieblingskleid, es glänzt, ist mit goldfarbenen Fäden durchzogen und mit Blumen bestickt. Einer der kleinen Schätze in ihrem Laden, 2500 Pesos, umgerechnet 90 Cents, soll es kosten: "Ich hoffe, es kauft jemand, dem es gut steht", sagt sie. Die meisten Familien im Viertel leben von weniger als zwei Euro am Tag.
Teenager werden auf den Straßen rekrutiert
"Sobald es dunkel wird, geht hier niemand mehr auf die Straße", sagt Elodia. "Da kann alles mögliche passieren." Den Sohn, 14, lässt sie auch tagsüber nur aus dem Haus, damit er zur Schule gehen kann. Zu groß ist die Angst, dass die bewaffneten Gruppen ihn mitnehmen könnten, alle hier wissen, dass in den Straßen von Altos de Cazucá Teenager rekrutiert werden. Freiwillig oder eben nicht. Der Krieg lässt die Vertrieben auch in der neuen Heimat nicht in Ruhe.
Doch Elodias Sohn hat Großes vor: "Er will Wissenschaftler werden", sagt sie und lächelt wieder. "Manchmal macht er auch Experimente, sammelt Insekten und hebt sie in Gläsern auf. Das macht ihm Spaß, deshalb findet er es auch nicht so schlimm, den ganzen Tag Zuhause zu sitzen."