Es war der 30. Juni 2022, als sechs Klimaaktivisten der Letzten Generation die Ausfahrt der Autobahn A100 am Tempelhofer Damm blockierten. Bereits einen Tag zuvor waren sie durch eine vergleichbare Aktion vor Ort aufgefallen. Polizisten lösten die Sitzblockade auf, ein Gericht erließ einen Strafbefehl. Es ist eine von 560 Straftaten der Letzten Generation, die die Sicherheitsbehörden seit 2022 zählen. 740 Personen sollen laut Bundesinnenministerin Nancy Faeser polizeilich aufgefallen sein – wegen Sachbeschädigung und Nötigung.
Auch den Aktivisten von der A100 warf ein Gericht Nötigung von Verkehrsteilnehmern vor und erließ einen Strafbefehl. Die Staatsanwaltschaft forderte daraufhin einen Erlass. Nun hat sich das Amtsgericht Berlin mit dem Fall beschäftigt und zugunsten der Aktivisten entschieden. Für Nötigung bestehe kein hinreichender Tatverdacht, heißt es in dem Beschluss des Amtsgerichts Berlin vom 31. Mai, der dem stern vorliegt. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wiege schwerer als das Grundrecht auf Fortbewegungsfreiheit der blockierten Autos, begründete das Gericht die Entscheidung. Allerdings nicht ohne zu betonen, dass es sich dabei um einen Einzelfall handelt.
Eigentlich gilt eine Straßenblockade nach der sogenannten "Zweite-Reihe-Rechtssprechung" als Gewalt, weil der dadurch verursachte Stau ein "unüberwindbares physische Hindernis" darstellt und Verkehrsteilnehmer an der Weiterfahrt hindert. Trotzdem sei die Tat in diesem Fall keineswegs rechtswidrig, weil die 35-minütige Blockade im Vergleich zu sonstigen Staus in der Hauptstadt "moderat" war, begründet das Amtsgericht die Entscheidung. Die Auswirkungen der Blockade seien überschaubar gewesen, zudem hätten die Aktivisten die Aktion im Vorfeld angekündigt. Autofahrer hätten demnach auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen oder mehr Zeit einplanen können, heißt es im Gerichtsbeschluss. Außerdem sei die Aktion durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Die Klimaaktivisten hätten sich "zusammengefunden, um (...) an der öffentlichen Meinungsbildung teilzuhaben".
Für einen Mitstreiter der Letzten Generation wurde dennoch ein Strafbefehl wegen Widerstand gegen die Vollzugsbeamten ausgesprochen. Als die Polizisten die Aktivisten von der Straße entfernen wollten, habe er sich auf der Straße festgeklebt. Zudem soll er wiederholt versucht haben, sich auf die Autobahnbrücke zu setzen.
Sind Straßenblockaden Nötigung?
Die Letzte Generation begrüßte die Entscheidung des Amtsgerichts. "Das ist der Zeitpunkt, an dem die Regierung sich mit uns an einen Tisch setzen sollte. Politiker sollten aufhören, uns zu kriminalisieren", sagte Letzte Generation-Sprecherin Carla Rochel in einer Mitteilung.
Politiker in Berlin stritten immer wieder über die Frage, ob Blockaden Nötigung seien. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sprach sich im November vergangenen Jahres in der Talkshow "Anne Will" dafür aus. "Diese Straßenblockaden sind Nötigung", das sei auch rechtlich "völlig eindeutig". Ähnlich positionierte sich der Fraktionschef der Berliner CDU, Dirk Stettner. "Der überwiegende Teil der Berliner empfindet das so, dass wir es mit einer Nötigung zu tun haben, die dem Klimaschutz in keiner Art und Weise hilft", zitiert ihn der "Tagesspiegel". Die Verkehrsexpertin der Grünen-Fraktion, Antje Kapek, hielt dagegen, dass es keine pauschale Nötigung gäbe und "das im Einzelfall zu prüfen" sei.
Am Amtsgericht Tiergarten gab es bis Anfang Mai 74 Strafurteile gegen Klimaaktivisten, berichtet der "Tagesspiegel". Meist seien sie wegen Nötigung verurteil worden. Ob ein Gericht entsprechend entscheidet, hängt von den Folgen ab, die eine Straßenblockade nach sich zieht. Im Fall vom 30. Juni 2023 hätte der Stau nicht lange angehalten. Weil eine Spur auf der Autobahn zügig freigeräumt wurde, seien die Autos umgeleitet worden und der Verkehr nur kurzzeitig zum Stillstand gekommen. Klar sei allerdings auch, dass "dass eine – im Zuge einer Straßenblockade – absichtlich herbeigeführte und gezielte Behinderung Dritter", um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, "nicht von der Versammlungsfreiheit gedeckt ist".
Kritik an Letzter Generation bleibt
Von Kritik befreit das Urteil die Aktivisten der Letzten Generation dennoch nicht. Das grundlegende Gegenargument bleibt: "Wir akzeptieren nicht, dass Aktivisten die Rechte anderer verletzen. Dem Klimaschutz nutzt das überhaupt nichts, im Gegenteil: Die Aktivisten schaden der Akzeptanz massiv", sagte Innenministerin Faeser. Sie verteidigte das Einschreiten der Polizei und Verurteilungen von Aktivisten. "Das ist richtig." Zugleich betonte sie: "Zwischen Straftätern und Extremisten gibt es aber Unterschiede."

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Die Letzte Generation verteidigte sich und warf Faeser vor, den Protest pauschal als Straftaten zu bezeichnen. "Nicht Ministerien, sondern Gerichte haben schlussendlich eine juristische Einschätzung zu treffen", teilte die Gruppe der Deutschen Presse-Agentur mit. Die Bundesregierung komme ihrer Pflicht nicht nach, unser aller Leben zu schützen. Die Aktivisten fordern mit Straßenblockaden und Angriffen auf Kunstwerke einen sogenannten Gesellschaftsrat, der das Ende der Nutzung fossiler Brennstoffe in Deutschland bis 2030 planen soll. Außerdem fordern sie Tempo 100 auf Autobahnen und ein 9-Euro-Ticket.
Berlin ist von allen Regionen und Städten Deutschlands am stärksten von den Aktionen der Klimaaktivisten am stärksten betroffen. Über 150 Aktionen fanden bisher in der Hauptstadt statt. Die Vorsitzende der Innenministerkonferenz, die Berliner Senatorin Iris Spranger (SPD), will die Straßenblockaden auf dem Mittwoch beginnenden Treffen der Innenressortchefs zum Thema machen. Berlin sei als Hauptstadt mit den Bundesministerien besonders stark betroffen, erklärte Spranger. Das habe "zu erheblichen Behinderungen im Straßenverkehr geführt, so dass auch verstärkt Einsatzfahrten von Rettungsfahrzeugen betroffen" seien.
Auch in Frankfurt am Main und München fanden zahlreiche Aktionen statt. Am häufigsten setzen die Aktivisten auf Blockaden von Hauptverkehrsstraßen und Autobahnzufahrten. Zuletzt hatte die Letzte Generation eine Sommerpause angekündigt. Danach will sie sich weiter auf Berlin, aber auch auf Bayern konzentrieren. Derzeit läuft noch eine Kampagne "gegen Reiche". Klimaaktivisten hatten unter anderem Luxushotels und Privatjets auf der Nordseeinsel Sylt mit Farbe besprüht.
Letzte Generation vor Gericht
Für die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union, Andrea Lindholz, sind die Zahlen der Straftaten ein Beleg dafür, dass es sich bei der Letzten Generation nicht um eine "harmlose Gruppe" handele. Im Mai hatten rund 170 Beamte Wohnungen und Geschäftsräume der Letzten Generation in sieben Bundesländern durchsucht. Ihnen wurde vorgeworfen, eine kriminelle Vereinigung zu unterstützen. Die Aktivisten bestreiten das und betonen ihren friedlichen zivilen Wiederstand.
Einige Mitglieder der Letzten Generation standen bereits vor Gericht. So wurden am 1. Juni in München drei Aktivisten zu Geldstrafen verurteilt, nachdem sie bei einem Fußballspiel des FC Bayern gegen Borussia Mönchengladbach aufs Spielfeld gelaufen waren. Bereits im April wurde in Berlin eine Aktivistin zu vier Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt, weil sie sich am Holzrahmen eines Gemäldes von Lucas Cranach dem Älteren (1472-1553) festgeklebt hatte und an Straßenblockaden beteiligt war.
Quellen: Letzte Generation, "Tagesspiegel", mit Material von DPA