Als Harvey Weinstein vor vier Jahren in New York wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung schuldig gesprochen wurde, freuten sich nicht nur die Opfer seiner Verbrechen, sondern auch all jene, die schon unter systemischem Machtmissbrauch zu leiden hatten. Über Jahrzehnte hatte Weinstein seinen Einfluss in Hollywood genutzt, um Frauen zu unterdrücken, zu manipulieren, sie zu sexuellen Handlungen zu zwingen.
Jetzt hat ein New Yorker Berufungsgericht entschieden, dass der dortige Prozess neu aufgerollt werden muss. Es ist ein Schlag ins Gesicht derer, die mutig genug gewesen waren, gegen den einflussreichen Filmproduzenten auszusagen. Durch die Entscheidung werden nicht nur Weinsteins Opfer im Stich gelassen, sondern alle Opfer von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch.
Harvey Weinstein: Urteil war bahnbrechend
2017 deckten gleich drei Journalisten, Jodi Kantor und Megan Twohey von der "New York Times" und Ronan Farrow vom Magazin "New Yorker", Weinsteins Machenschaften auf. Sie recherchierten dafür über Jahre, sprachen mit Vergewaltigungsopfern, mit Frauen, die mit Weinstein zusammengearbeitet hatten, auch mit hochkarätigen Hollywood-Stars. Es war der Anstoß der MeToo-Bewegung. Dabei ging es nicht ausschließlich um Verbrechen wie Vergewaltigung, sondern eben auch um das System, das oft hinter den Sexualverbrechen steht und diese erst ermöglicht.
Harvey Weinstein stand seither wie kein Zweiter für Machtmissbrauch und für die Schattenseiten der angeblichen Traumfabrik. Über Jahrzehnte hatte er Karrieren beenden lassen, wenn Frauen sich gegen ihn zur Wehr setzten. Er hat erniedrigt, drangsaliert und unzähligen Menschen psychische Schäden zugefügt. Zahlreiche Frauen erzählten den Journalisten, wie sehr sie das Monster Weinstein fürchteten. Dass ihnen klar gewesen sei, was es heißen würde, wenn Weinstein sie auf sein Hotelzimmer bittet. Sie beschrieben Szenen, die keine Frau erleben möchte: Weinstein, der sie im Hotelzimmer bedrängt, nur im Bademantel gekleidet. Weinstein, der ihnen drohte. Weinstein, wie er sie vergewaltigte. Nach der Verurteilung atmeten nicht wenige von ihnen auf. Ihr Mut war belohnt worden, endlich.
"Das Weinstein-Urteil könnte sich als ein symbolischer Wendepunkt erweisen, (...) der zeigt, dass Sexualverbrechen nicht unbedingt sauberen Abläufen folgen. Die öffentliche Wahrnehmung könnte umgestaltet werden – Opfer verdienen, vor Gericht gehört zu werden", erklärten Kantor und Twohey nach dem Schuldspruch Weinsteins in einem Artikel. Denn der Prozess gegen den einstigen Filmmogul war aus juristischer Sicht nicht so schwarz und weiß, wie es in der Öffentlichkeit aufgrund der schieren Masse an schlimmen Anekdoten rundum Weinstein klang.
Die Anklage der New Yorker Staatsanwaltschaft galt damals durchaus als riskant. Zwei der Frauen, die vor Gericht gegen den mittlerweile 72-Jährigen aussagten, hatten nach dessen Verbrechen noch Beziehungen zu ihm unterhalten. Ein Verhalten, das zwar nicht unüblich ist nach sexuellen Übergriffen, für die Strafverfolgung gleichwohl problematisch. Hinzu kam, dass die Ermittler um Joan Illuzi kaum physische Beweise hatten, keine Ergebnisse medizinischer Untersuchungen etwa.
Urteilsaufhebung bedeutet Retraumatisierung
Aber: Die Jury glaubte den Frauen. Und sorgte für einen symbolischer wie rechtlichen Wendepunkt, der damals auch durch die MeToo-Debatte begünstigt wurde. Die Geschworenen erkannten nämlich an, dass einvernehmlicher Geschlechtsverkehr in einer Situation nicht ausschließen muss, dass Weinstein an einem anderen Tag Frauen vergewaltigt haben kann.
Die Staatsanwaltschaft rief damals Frauen in den Zeugenstand, die das System Weinstein erklären konnten und selbst Opfer von ihm geworden waren. Ihre Geschichten gehörten nicht zur Klage, dienten allerdings dazu, das Bild zu ergänzen. "Wir kommen zu dem Schluss, dass das erstinstanzliche Gericht fälschlicherweise Zeugenaussagen über nicht angeklagte, mutmaßliche frühere sexuelle Handlungen gegen andere Personen als die Kläger der zugrunde liegenden Straftaten zugelassen hat", schrieb der Vorsitzende Richter in der Entscheidung vom Donnerstag. Für Weinstein ändert sich nichts, aufgrund einer Verurteilung in Los Angeles wird er in Haft bleiben.
Für die Opfer ändert die Verkündung alles.
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Nicht nur Hollywood reagiert schockiert auf die Urteilsaufhebung, auch in juristischen Kreisen sorgt der Erlass bei vielen für Fassungslosigkeit. Madeline Singas, selbst Berufungsrichterin in New York, erklärte gegenüber "The Wrap", das Gericht habe "einen beunruhigenden Trend fortgesetzt, Schuldsprüche von Geschworenen in Fällen sexueller Gewalt aufzuheben." Die Entscheidung erhalte "überholte Vorstellungen von sexueller Gewalt aufrecht und ermögliche es Tätern, sich der Verantwortung zu entziehen".
Was Singas meint: Es ist ohnehin schwierig, ein Sexualverbrechen vor Gericht zu belegen. Wie der Weinstein-Fall und die MeToo-Bewegung wiederholt gezeigt haben, ist nicht jedes Opfer eines Sexualverbrechens blau geprügelt oder trägt andere physische Spuren. Auch haben nicht alle Opfer die Möglichkeit oder das Bewusstsein dafür, sich von Medizinern untersuchen zu lassen und Beweise zu sichern. Zur Polizei zu gehen und seinen Peiniger anzuzeigen bedeutet noch immer ein Schritt, den zu gehen sich viele Opfer schlicht nicht trauen. Zu groß die Angst, dass einem nicht geglaubt wird, zu unwahrscheinlich, dass es zu einem Urteil kommen könnte.
Für Weinsteins Opfer bedeutet die Ankündigung aus New York, dass sie bei einem neu aufgerollten Prozess das Erlebte nochmal werden schildern müssen. Retraumatisierung von Staats wegen, das ist nicht nur deshalb emotional enorm belastend.
2020 wirkte es so, als habe die MeToo-Bewegung, ausgelöst durch den Mut zahlreicher Frauen (und auch mancher Männer), Früchte getragen. Als könnte sich wirklich etwas ändern in unserem Umgang mit Opfern sexueller Gewalt, damit, wie sie behandelt werden, wie wir ihnen zuhören. Weil Kontext eben wichtig ist und im Zuge dessen ein Verständnis für die vielen Nuancen, die sexuelle Übergriffe haben.
Ein schöner Traum.
Vier Jahre nach dem bahnbrechenden Urteil werden die Opfer doch wieder im Stich gelassen. Und dass ausgerechnet der Auslöser der MeToo-Bewegung das für sich als Erfolg reklamieren darf, der Mann, mit dem alles begann, ist so fatal und pervers, wie es seine Taten waren.
Quelle: "The Wrap"
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