Meinungsfreiheit ist sowas wie die Trikolore der Demokratie: Man kann sie gar nicht hoch genug halten. Jeder Streit für die Meinungsfreiheit ist es wert, ausgetragen zu werden. Jedes Urteil zugunsten der Meinungsfreiheit ist ein gutes, ganz gleich, welche Meinung verteidigt wird.
Der Mord an Charlie Kirk, einem US-Aktivisten, der Trump nahestand, macht deutlich, in was für ein barbarisches Zeitalter wir zurückfallen, wenn Selbstjustiz herrscht. Das sage ich als jemand, die keine einzige von Kirks Positionen ohne Widerspruch hinnehmen würde.
Der Tod von Charlie Kirk hat auch in Deutschland heftige Emotionen ausgelöst. Da stirbt einer, der öffentlich gesagt hat, was er denkt. Einer, der das Geschäft der Demokratie betrieb. Jeder Journalist, Politiker, Engagierte kennt das: Wir stehen da und berichten, sagen, was ist, und zeigen, was wir denken. Das sind keine Eitelkeiten, auch wenn es manchmal so wirkt. Die Demokratie lebt von solchen Menschen. Sie muss diese Menschen um jeden Preis schützen; auch deshalb ist die Meinungsfreiheit ein Grundrecht.
Was Charlie Kirk widerfahren ist, diese brutale Selbstjustiz durch einen Mörder sowie die darauffolgende und nicht minder brutale Übertragung in den sozialen Medien, das alles sind Angriffe auf einen Menschen und die Demokratie.
In Deutschland müsste man jetzt entschlossen dafür kämpfen, dass es hier nicht so kommt wie in den USA. Doch plötzlich schwappen die Diskussionen über den Teich. Viele heizen die Stimmung weiter an und instrumentalisieren Kirks Tod für einen Lagerkampf. Das Perverse daran: Wir sehen fast tatenlos dabei zu, wie die Spaltung, die in den USA vorangetrieben wird, sich auch durch unsere Gesellschaft ziehen soll.
Die Kämpfe, die dort Alltag geworden sind, sollen genauso erbittert bei uns weitergeführt werden. Wenn wir jetzt keine Grenzen setzen, werden wir von den Wellen des Spaltungs-Tsunamis erfasst – das ist im Interesse der internationalen Rechtsaußenbewegungen.
Der Fall Walter Lübcke
Ich möchte an den letzten politischen Vertreter erinnern, der in Deutschland für seine öffentlich geäußerte Meinung ermordet wurde: an Walter Lübcke. Als Mitglied der CDU setzte er sich für eine humane Flüchtlingspolitik ein und bezahlte dafür mit seinem Leben.

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Was ist heute, im Jahr 2025 los, dass wir heftiger über den Mord an Charlie Kirk streiten, als wir uns damals über Walter Lübcke gestritten haben? Im Streit um Kirk geht es eben nicht um Meinungsfreiheit, sondern um Lagerzugehörigkeiten. Es geht darum, eine "radikale Linke" zu kreieren, wie Trump sie als Gegner aufbaut, damit er jene diffamieren kann, die sein System kritisieren. Trump hat die Immigranten rhetorisch schon hinter sich, sie werden deportiert. Jetzt sind seine Landsleute dran. Die "radikal linken" Demokraten.
Wir dürfen uns von dieser Spaltungsrhetorik Trumps nicht infizieren lassen. Dieses Virus verbreitet sich exponentiell, und wir sehen live dabei zu. Die neuen transatlantischen Beziehungen zu den USA unter Trump kann nicht darin bestehen, dem großen Bruder den Hass nachzumachen.
Digitale Gewalt und Drohungen gegen Dunja Hayali
Die Moderatorin Dunja Hayali sagte nach dem Tod von Charlie Kirk im "heute Journal" des ZDF: "Dass es nun Gruppen gibt, die seinen Tod feiern, ist mit nichts zu rechtfertigen, auch nicht mit seinen oftmals abscheulichen rassistischen, sexistischen und menschenfeindlichen Aussagen." Mit diesem Satz verurteilte sie alle, die Kirks Tod feiern, sie verschwieg aber nicht, wofür Charlie Kirk stand. Die Lagerfanatiker deuteten danach ihre Aussage um in einen Angriff auf die Meinungsfreiheit. Sie drohten ihr. Warfen ihr vor, die Unterstützer seines Mörders in Schutz zu nehmen; dabei hat sie sich klar von diesen Leuten distanziert.
Fakten interessieren diesen Mob nicht. Dunja Hayali wird im Netz mit Drohungen geflutet. Diese angeblichen Gotteskrieger der Meinungsfreiheit behaupten, Hayali hätte aus Gründen der Pietät Kirks politischen Haltungen nicht als antidemokratisch beschreiben dürfen. Als ob es der Job einer Journalistin wäre, zu verschweigen, was ist, damit es nicht weh tut. Zumal man Charlie Kirk und seine Positionen in Deutschland bis dato kaum kannte.
Natürlich muss eine Journalistin auch darüber informieren, wofür der Ermordete stand. Selbst wenn das ultrarechte Positionen waren, rechtfertigen sie nicht den Mord. Der Mob im Netz will aber keine Einordnung von Positionen, viele drohen: "Wir werden dich noch hängen sehen." Das gehört noch zu den höflicheren Botschaften. Ein Freibrief für digitale Gewalt, weil Dunja Hayali angeblich die Meinungsfreiheit von Charlie Kirk mit Füßen getreten haben solle. In der Folge zog Dunja Hayali sich vorerst aus den sozialen Medien zurück.

Dieser Mob kommt daher, als ginge es ihm um den Kampf für die Meinungsfreiheit. Es geht ihm jedoch um den Kampf gegen die Meinungsfreiheit, weil er die Meinung, Trump und seine MAGA-Bewegung seien antidemokratisch, mit Gewalt zum Verstummen bringen will. Demokratie ist das, was die Autoritären sagen.
Als wäre das alles nicht genug Chaos, fingen einige deutsche Journalisten und Meinungsmacher an, sämtliche Medienmeldungen der letzten Tage in einen Topf zu werfen: Die digitalen Drohungen gegen Dunja Hayali wurden vermischt mit der Entscheidung des NDR, sich von der Moderatorin Julia Ruhs für die Sendung "Klar" zu trennen. Ruhs wird beim Bayerischen Rundfunk weitermachen, aber sie und ihre Anhänger inszenieren sie als Opfer.
Letztlich geht es beim kruden Vergleich von Hayali und Ruhs nicht mehr um Meinungsfreiheit, sondern um das Zementieren der politischen Lager. Wir lassen uns trumpisieren. Doch während Dunja Hayali trotz der Gewalt, die ihr angedroht wird, auf Unterstützung aus der Politik warten muss, stellen sich die Ministerpräsidenten Markus Söder und Daniel Günther auf die Seite von Julia Ruhs – das ist medienwirksames Lagerbranding.
Besser wäre gewesen, die Politiker hätten dem Mob eine Botschaft zukommen lassen, die klarmacht: Mit Hass und Morddrohungen führen wir in Deutschland keine Diskussionen! Wer nachweisbar hetzt, wird bestraft! Auf diesen Aufruf zur Besonnenheit aus der Politik warten alle noch, die sich einen anständigen Dialog wünschen.
Hayali und Ruhs sind unterschiedliche Fälle
Wer Hayali und Ruhs im Moment nebeneinanderstellt, hat kein Interesse an Meinungsfreiheit und dem respektvollen Miteinander, das sie ermöglicht, sondern er will Lagerkämpfe wie bei Trump. So entsteht das Risiko, dass viele, die nur in einem halbwegs kultivierten Diskussionsklima mitreden können oder wollen, sich zurückziehen.
Als hätte ich nicht genug von der Amerikanisierung Deutschlands, kommt nun die Nachricht hinzu, dass Jimmy Kimmel, einer der besten Comedians der USA, seinen Sendeplatz verliert, weil er in seiner Show gesagt hat, Trumps MAGA-Leute täten alles Erdenkliche, damit der Mörder von Charlie Kirk nicht als einer aus deren MAGA-Lager erscheint. Obwohl seine Eltern nach aktuellem Stand genau das sind: Trumpisten. Trump drückt den Ausknopf bei Jimmy Kimmel. Die Senderchefs sagen: Zu Befehl, Mr. President.
Amerika, so tot warst du lange nicht mehr.
Statt zu kapieren, was für ein Einschnitt der Rauswurf von Kimmel ist, fangen die Leute hier sofort an zu streiten. Da heißt es: Als die Woken hierzulande gecancelt haben, da hattet ihr auch nichts dagegen. Alles Canceln ist gleich schlimm, seht das doch ein, sagen sie.
Zensur, nicht Cancel Culture
Doch als "die Woken" nervten, waren das Minderheiten, die sich empörten und Druck ausüben wollten, manchmal mit Erfolg. Daran gab es viel zu kritisieren. In den USA sind es aber nicht Wokegruppen, die etwas verhindern wollen. Es ist der Staatschef, der einfach nur sagt: Weg mit dem! Und weg ist Jimmy Kimmel. Das ist Zensur, nicht Cancel Culture.
Wir schlittern gerade wie Demokratie-Analphabeten auf Trumps autoritärer Eislaufbahn ins Durcheinander aller gegen alle. Müsste man sich jetzt nicht mit aller Wucht abgrenzen von Trumps Amerika? Ich selbst traue niemandem mehr, der sich inbrünstig auf Themen aus den USA stürzt und dabei so tut, als ginge es ihm um die Meinungsfreiheit. Letztlich geht es den meisten um Lagerbildung nach Trumps Vorbild. Wer von der "radikalen Linke" redet, ist schon längst dabei, Trumps Agenda in Deutschland umzusetzen.
Ich möchte solchen Debatten-Aufheizern meine Meinung sagen, solange es noch geht: Ich habe null Bock auf Trumps Amerika in Deutschland. Wir müssen jetzt viel klüger sein als die. Wir können miteinander reden. Noch.