Der Messerangriff von Mannheim schickte Schockwellen durch Deutschland. Ein Islam-Kritiker wird schwer verletzt, der Polizist Rouven Laur ermordet. Wenige Tage darauf wird ein AfD-Politiker mit einem Teppichmesser attackiert. Am Montag kommt es in einer Regionalbahn im Saarland zu einem weiteren Messerangriff. Nur kurz danach wird in Frankfurt eine Frau auf einer Parkbank mit einem Cutter schwer verletzt.
Solche Taten sind nicht neu: So wurde zum Beispiel die Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker im Oktober 2015 bei einer Messerattacke schwer verletzt. Im Juli 2017 starb ein Mensch nach einem Messerangriff in einem Hamburger Supermarkt. Im Juni 2021 tötete ein Mann drei Frauen in einem Kaufhaus im bayerischen Würzburg.
Messerangriffe: "In gefährlichen Situationen auf Bauchgefühl hören"
Auch wenn Angriffe mit Messern immer wieder passieren: Gerade wegen der Tat in Mannheim und der gefühlten Häufung dieser Attacken entsteht ein Gefühl der Unsicherheit, und die Angst vor Messergewalt wächst.
Aber wie groß ist die Gefahr wirklich? Professor Swen Körner bildet Polizisten und Notfallsanitäter in Selbstverteidigung und Konfliktmanagement aus. Dem stern erklärt er, wie groß die Gefahr ist – und wie man im Ernstfall am besten reagiert.
Herr Körner, in den vergangenen Wochen und Monaten kam es immer wieder zu Messerangriffen in Deutschland, die die Menschen erschüttern. Nimmt die Gefahr zu?
Die aktuellen Zahlen sagen ja, auch wenn das individuelle Risiko äußerst gering ist. Seit 2020 werden in der polizeilichen Kriminalstatistik Messerangriffe aufgeführt. Ihr Anteil bei der gefährlichen und schweren Körperverletzungen ist 2023 im Vergleich zum Vorjahr um rund zehn Prozent gestiegen. Aber das, was man im Kopf hat, wenn wir von Messerattacken reden – ein Mensch steht morgens auf, schnappt sich ein Messer und ist fest entschlossen, einen anderen zu töten –, diese Attacken sind selten. Doch das nützt Betroffenen natürlich wenig. Grundsätzlich gilt, die richtige Balance zwischen Paranoia und Sorglosigkeit zu finden. Durchs Leben zu gehen und zu denken "mir kann nichts passieren", das ist naiv. Andererseits lauert auch nicht hinter jedem Busch ein Angreifer.
Sehen Sie in unseren interaktiven Grafiken: So haben sich die Zahlen der Delikte Raub und Körperverletzung inklusive der Messerangriffe in den letzten Jahren verändert.
Das Interview wird unter den Grafiken fortgesetzt.

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Kann man sich gegen Messerangriffe wehren?
Als ich das Video von Mannheim gesehen habe, war ich schockiert, weil man sieht, wie unerwartet, plötzlich und entschlossen der Täter die Messerangriffe durchführte. Auf einen solchen Fall, das muss ich ganz ehrlich sagen, kann man sich nicht zu 100 Prozent vorbereiten. Das sage ich, obwohl wir auch mit der Polizei trainieren. Wir simulieren in den Trainings aggressive, chaotische Angriffssituationen, damit Gehirn und Körper lernen, darauf mit funktionalen Abläufen zu reagieren. Aber dieser Form von kalter Aggression, kombiniert mit der Entschlossenheit, zum Äußersten zu gehen, lässt sich kaum etwas entgegensetzen – außer die eigene Entschlossenheit, bis zum Äußersten zu gehen.

Swen Körner, 48, Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln, Abteilung Trainingspädagogik und Martial Research. Körner bildet unter anderem Polizisten und Notfallsanitäter in Selbstverteidigung und Konfliktmanagement aus. Er war Leistungssportler, mehrfacher Deutscher Meister im Vollkontakt-Taekwondo und unterrichtet diverse Selbstverteidigungsstile.
Was ist mit Menschen, die keine Erfahrung mit Kampftraining und Selbstverteidigung haben? Was raten Sie denen?
Sie sollten in gefährlichen Situationen auf ihr Bauchgefühl hören. Unsere Intuition gibt uns in Überlebensfragen häufig die richtigen Impulse. Das zeigen Studien.
Können Sie ein Beispiel geben?
Wenn man im Zug erlebt, dass andere mit einem Messer attackiert werden und man hat Angst um das eigene Leben, dann wird das Bauchgefühl vermitteln: entweder eingreifen, mit absoluter Entschlossenheit – oder auf Distanz gehen. Verschanzen Sie sich. Schließen Sie sich in der nächsten Toilette ein, nehmen Sie Ihre Reisetasche vor den Körper, rufen Sie die Polizei, bitten Sie andere um Hilfe.
Sehen Sie in unserer interaktiven Grafik: So haben sich die Zahlen Messerangriffe in den Bundesländern entwickelt.
Das Interview wird unter der Grafik fortgesetzt.
Was kann noch helfen, gefährliche Situationen zu bewältigen?
Einzelne Kampftechniken werden nicht helfen, es geht vielmehr um Prinzipien. Zum Beispiel aufmerksam zu sein. Besonders in Räumen und an Orten, wo das Risiko für Gewalt erhöht ist. Dazu gehören Bahnhöfe, Fußballstadien, große Menschenansammlungen. Überall dort, wo viel Alkohol im Spiel ist. Nachts passiert mehr als tagsüber, ebenso am Wochenende.
Alles, was Sie nennen – nachts unterwegs sein, feiern, tanzen –, ist Ausdruck von Freiheit. Soll man die einschränken?
Nein. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, die Aufmerksamkeit zu schärfen. In der S-Bahn kann man schauen, wo man sich sicher fühlt. Mit dem Rücken zur Wand hat man einen guten Überblick. Sich zu einer Gruppe netter Leute zu setzen erhöht ebenfalls das Sicherheitsgefühl. Täter suchen sich Opfer nach bestimmten Merkmalen heraus. Ist jemand allein, unaufmerksam und wirkt verletzlich, wählen sie ihn gern aus. Deshalb: entspannte Aufmerksamkeit für die Umgebung.
Was ist mit Pfefferspray?
Wenn man es punktgenau einsetzt, dann hilft es. Aber das ist oft nicht der Fall. Die Menschen nutzen Pfefferspray erst, wenn es ernst wird, und können es dann oft nicht richtig anwenden.
Bevor sich jeder einzelne Bürger rüstet, wäre es nicht sinnvoller, Messer im öffentlichen Raum zu verbieten und die Polizeipräsenz zu erhöhen?
Das wird derzeit diskutiert, und einzelne Städte versuchen, das in Pilotprojekten mit Verbotszonen umzusetzen. Aber wenn man Verbote einführt, muss man gewährleisten, dass sie überprüft und eingehalten werden. Sonst ist das ein Papiertiger, der nichts ändert. Ich glaube nicht, dass sich das Mitführen von Messern verbieten lässt. Erhöhte Polizeipräsenz ist eine Maßnahme, die abschrecken kann – aber es kann sie nur punktuell geben.
Von rechten Gruppen wird behauptet, dass vor allem muslimische Jugendliche für den Anstieg der Messergewalt verantwortlich sind. Trifft das zu?
Nach aktuellen Daten: nein. Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Staatsangehörigkeit, Ethnie und Messergewalt. Das zeigt eine Studie der Kriminologischen Zentralstelle. Dafür wurden Daten von rechtskräftig Verurteilten aus Rheinland-Pfalz ausgewertet.
Sehen Sie in unserer interaktiven Grafik: So haben sich die Anteile der deutschen und nichtdeutschen Tatverdächtigen in den letzten Jahren entwickelt. Die Staatsangehörigkeit bei Messerangriffen wird nicht von allen Polizeibehörden ausgewiesen. Im Sicherheitsbericht des Landes Baden-Württemberg für das Jahr 2022 wurde dies aber getan. Hier ergab sich: 48,2 Prozent der Tatverdächtigen bei Messerangriffen hatten die deutsche Staatsangehörigkeit, 7 Prozent die syrische, 6,6 die türkische, 3,3 die rumänische, jeweils 2,6 die afghanische und irakische. In 450 Fällen haben demnach Asylsuchende und Flüchtlinge mit einem Messer angegriffen.
Das Interview wird unter der Grafik fortgesetzt.
Sie unterrichten an der Sporthochschule Köln unter anderem den Selbstverteidigungsstil Krav Maga. Fühlt man sich als Kampfsportler sicherer?
Das Sicherheitsgefühl steigt durch Training, ja. Trotzdem ist man als Kampfsportler genauso verletzbar wie jeder andere Mensch. Ich habe persönlich einmal eine lebensbedrohliche Situation erlebt. Es waren mehrere bewaffnete Angreifer. Ich habe kurz gekämpft. Im Anschluss bin ich weggerannt. Das hat mich gerettet. Im Training fragen mich Teilnehmer manchmal, ob sie sich selbst ein Messer zulegen sollen, wenn in den Medien wieder über einen Fall berichtet wird. Ich bin da skeptisch. Es gibt den sogenannten weapon-effect: Menschen, die Waffen an sich tragen, setzen sie auch ein und erhöhen damit die Wahrscheinlichkeit für Gewalt. Das sollte man wissen.