Laut dem statistischen Bundesamt ist in Deutschland im Jahr 2022 ein deutlicher Geburtenrückgang im Vergleich zum Jahr 2019 erkennbar gewesen. Dieser Trend ist nicht neu, sondern lässt sich schon einige Jahre beobachten. Immer mehr Menschen entscheiden sich aktiv dagegen, Kinder in die Welt zu setzen. Die Stiftung für Zukunftsfragen nennt hierfür einige Gründe: Kinder seien mit zu hohen Kosten verbunden, die Frauen wollen ihre Freiheit nicht aufgeben und die Zukunftssicherheit ist heutzutage kaum gegeben: Knapp die Hälfte der Bürger:innen sorge sich um "zukünftige gesellschaftliche Entwicklung, sei es in puncto Arbeitsplatzentwicklung, Wirtschaftswachstum, Klimawandel oder Terror – und nennt daher die unsichere Zukunft als einen Grund, sich gegen Kinder zu entscheiden." Sich freiwillig gegen die Fortpflanzung auszusprechen und keine Kinder zu zeugen, nennt sich Antinatalismus. Doch nicht alle Menschen teilen diese Ansicht. Eine Lebenseinstellung, die dem Antinatalismus im Extremen gegenübersteht, ist der Pronatalismus. Denn der Pronatalismus will vor allem eins: Eine hohe Geburtenrate. Es gilt: Je mehr Kinder in die Welt gesetzt werden, desto besser für Gesellschaft, Familie und Politik.
Pronatalismus: Die Hypewelle im Silicon Valley
Dabei erinnert Pronatalismus an gesellschaftliche Normen der Vergangenheit – eine Lebensphilosophie die Familie an oberster Stelle stellt und Kinder als das wahre Glück sieht. Auch heutzutage gibt es Menschen, die an dem traditionellen Familienbild nicht nur festhalten, sondern es auch noch verstärken. Simone and Malcolm Collins leben im Silicon Valley und sind Pronatalist:innen aus Überzeugung. Sie haben nach eigenem Bekunden Angst vor einem demografischen Zusammenbruch. Auf ihrer Website heißt es: "Die Menschheit hat eine ganz reale Chance, das Aussterben zu erleben." Deshalb haben sie eine Pronatalismus-Stiftung gegründet. Ihr Ziel ist es, Familien zu stärken, die sich dafür entscheiden, "die menschliche Rasse zu erhalten und um kulturelle, ethnische und genetische Vielfalt zu verbreiten."
Die Collins, die sich selbst als "schonungslos pragmatisch" bezeichnen, sagten gegenüber dem "Buisness Insider", dass möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen ein Weg sei, unsterblich zu werden. Sie haben dafür einen "Index", mit dessen Hilfe man Kinder beobachten und auswerten kann. "Wir zeichnen auf, wie sich Kinder emotional entwickeln, wie sie sich beruflich entwickeln und ob sie in der Kultur bleiben, in der sie aufgewachsen sind", so Malcom Collins gegenüber dem "Buisness Insider". Wenn sie diese Daten elf Generationen lang aufzeichnen, so glaubt das Ehepaar, werden sie Aufzeichnungen von hunderten von Jahren haben, die ihnen helfen, etwas über die Weltpopulation zu lernen.
Und auch Twitter-Eigner und Tesla-Chef Elon Musk teilt seine pronatalistische Lebenseinstellung öffentlich. 2022 behauptete er per Tweet, dass ein Bevölkerungszusammenbruch aufgrund niedriger Geburtenraten eine viel größere Gefahr für die Zivilisation sei als die globale Erderwärmung.
Obwohl das Ehepaar Collins auf ihrer Website immer wieder betont, dass sie Vielfalt erhalten und fördern wollen, fällt auf, dass offenbar viele Anhänger:innen des Pronatalismus sehr wohlhabende weiße Menschen sind, die im Silicon Valley wohnen: Tesla-Chef Elon Musk, das Ehepaar Collins und auch Tech-Milliardär Peter Thiel. Sie alle sind öffentlich auftretende Vertreter:innen des Pronatalismus und das zieht Kritik auf sich. Das Magazin "die Weltwoche“ nennt ihr Vorhaben, möglichst viele Nachkommen zu zeugen eine "überwachte Vermehrung des oberen Gesellschaftsstratums". Auch der ehemalige Produktmanager von Facebook und "Wired"-Autor Antonio García Martínez sieht diese gesellschaftliche Entwicklung im Silicon Valley kritisch. In seinem Buch "Chaos Monkeys" schreibt er, dass der Protnatalismus des Silicon Valley höchst elitär und neofeudal sei und schon länger eine Art Klassensystem etabliert habe.
Die Kritik von außen neimmt das Ehepaar Collins sich dabei nicht zu Herzen. Denn Simone Collins betont gegenüber dem "Buisness Insider", dass ihre Nachfahr:innen "die neue dominante Führungsschicht in der Welt" würden und deshalb sei sie bereit, den "kleinen Preis" der Kritik zu ertragen. Der Grundgedanke des Pronatalismus, die Weltbevölkerung durch eine hohe Geburtenrate zu stärken, ist jedoch nicht nur auf die Menschen des Silicons Valley beschränkt. Auch ganze Länder können eine pronatalistische Politik betreiben, um damit die Geburtenrate des eigenen Landes zu erhöhen. Dazu zählen beispielsweise Maßnahmen wie das Kindergeld in Deutschland. Denn mit diesem finanziellen Anreiz soll das Elterndasein für Erwachsene erschwinglicher und attraktiver gemacht werden.

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Pronatalistische Politik
Eines der Länder, die eine sehr starke pronatalistische Politik betreiben, ist Ungarn. Zum Beispiel wird alleinerziehenden Müttern Wohngeld bezahlt und aktiv neue Kindergartenplätze geschaffen. Außerdem werden Frauen, die mehr als vier Kinder haben, lebenslang von der Einkommenssteuer befreit. Doch die finanzielle Unterstützung von Müttern ist nicht der einzige politische Weg, den der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán einschlägt. Um die Geburtenzahl erhöhen, setzt sich das Land strikt gegen Abtreibung ein.
103 Millionen Geflüchtete weltweit – diese Länder nehmen die meisten auf

Ein Großteil der Menschen kommt aus dem Nachbarland Myanmar, wo die muslimische Minderheit der Rohingya seit Jahrzehnten verfolgt wird, besonders seit einer Offensive der myanmarischen Armee im August 2018. Bangladesch erkennt die Genfer Flüchtlingskonvention zwar nicht an, nimmt aber seit Jahrzehnten eine hohe Zahl an Geflüchteten auf. Diese haben allerdings keinen legalen Aufenthaltsstatus, was die Sicherheitslage für sie schwieriger macht. Bangladesch hat etwa 171 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, Geflüchtete stellen einen Anteil von rund 0,55 Prozent.
2019 hat Viktor Orbán eine Konferenz zum Thema Bevölkerungsrückgang gehalten. Dort durften vor allem Abtreibungsgegner:innen sprechen. Der Zugang zu einer sicheren Abtreibung für schwangere Frauen ist massiv eingeschränkt worden. Dem Bevölkerungsrückgang mit Einwanderung entgegenzuwirken, lehnt Ungarn ab. Orbán spricht sich ausdrücklich gegen eine Lockerung der Gesetze zur Einwanderung aus und begründete dies mit der Aussage, er wolle nicht irgendwelche Kinder, sondern nur ungarische. In einer Ansprache an die Nation betonte er außerdem, dass in Europa immer weniger Kinder geboren würden und die Antwort des Westens darauf die Immigration sei. "Die Ungarn denken anders", sagt Orbán in seiner Ansprache, "Wir brauchen keine Zahlen. Wir brauchen ungarische Kinder."
In einem 2021 erschienen Artikel in der akademischen Zeitschrift "Race&Class" beschreibt die pakistanische Journalistin Sophia Siddiqui dieses Phänomen als "reproduktiven Rassismus". Sie kritisiert, dass Regierungen wie Ungarn, Polen und Italien ihre rechte Agenda hinter politischen pronatalistischen Maßnahmen, die die Geburtenrate des eigenen Landes stärken sollen, verstecken.
Quellen: Business Insider, Stiftung für Zukunftsfragen, Race&Class, Refinery29, Statistische Bundesamt, Die Weltwoche, Chaos Monkey