Dieses Interview stammt aus dem stern-Archiv und erschien zuerst am 27. April 2023.
Sie leiten eine Oberschule in Niedersachsen und haben nun ein Buch mit dem Titel "Wir verlieren unsere Kinder!" geschrieben. Wie kommen Sie zu dieser Behauptung?
Da erzähle ich Ihnen gleich eine Geschichte: Eines Morgens standen vier Schülerinnen aus den achten Klassen bei mir im Zimmer und sagten: "Wir wollen Ihnen mal zeigen, was heute im Bus über Airdrop rumgeschickt wurde." Sie starteten einen etwa dreiminütigen Film auf dem Smartphone, in dem ein gefesselter Mann bei vollem Bewusstsein mit einem Skalpell kastriert wurde. Das hatten etliche Kinder gesehen.

Woher kam dieses Video?
Solche Filme und Bilder gelangen fast immer über die sozialen Netzwerke zu den Kindern. Tiktok ist da oft ganz vorn. Außerdem wird so was über Messenger-Dienste wie Whatsapp und Snapchat geteilt.
Wie oft sind die Schüler und Schülerinnen solchen Bildern ausgesetzt?
Fast täglich. Das ist ein Dauerfeuer. In jeder Schule und jeder Schulform. Sie sehen sexuellen Missbrauch, unfassbare Gewalt, Morde, Hinrichtungen und rassistische Übergriffe. Und sie werden damit alleingelassen.
Wie reagieren die Betroffenen?
Das ist unterschiedlich. Einige sind geschockt, ziehen sich zurück, schweigen und werden damit schwer fertig. Andere – und das entsetzt mich zusätzlich – zucken mit den Schultern und zeigen deutliche Zeichen von Abstumpfung und Verrohung. Ich kann nur ahnen, was das insgesamt mit der Psyche der Kinder macht, welche Verheerungen so etwas anrichtet.
In welchem Alter werden die Kinder erstmals damit konfrontiert?
Im Grundschulalter. Es reicht schon, wenn nur einer ein Smartphone hat. Da heißt es: Guck mal. Und schon steht da eine Traube Schüler, und die sehen beispielsweise ein kinderpornografisches Bild, genauer einen Sticker, wie ein kleines Mädchen von zwei Männern missbraucht wird.
Wie erfahren Sie davon?
Durch einige Kinder. Wir haben an unserer Schule eine recht offene Gesprächskultur. Die Schüler nehmen uns als interessiert und zugewandt wahr. Etwa seit dem Jahr 2016 merken wir, dass sie immer häufiger mit Problemen zu uns kommen, die sie aus ihrer jugendlichen Welt mitbringen, die aber nichts mehr mit unserer analogen Erwachsenenwelt zu tun haben. Sie kommen nicht mehr klar damit.
Wer stellt diese Bilder her?
Der eigentliche Urheber ist meist unklar. Das Kastrationsvideo wurde dem asiatischen Raum zugeordnet. Oft stammt so etwas aus dem Darknet.

Also dem verborgenen Teil des Internets, in dem mit Waffen, Drogen und Kinderpornografie gehandelt wird.
Da reinzukommen ist leider gar nicht so schwer. Und dann besorgt sich dort jemand diese Videos oder bekommt sie von anderen geschickt und sendet das an den Klassenchat oder an all seine Kontakte weiter.
Warum?
Um sich wichtig zu machen oder andere zu schocken. "Guck mal, was ich hier Krasses habe!" Da werden Kinder getötet, Frauen vergewaltigt, Gefangene gefoltert. Ein Video, in dem ein Hundewelpe totgetreten wird, hatte übrigens über eine Million Likes. Ich verstehe die Welt auch nicht mehr.
Was empfinden Sie selbst, wenn Sie diese Videos und Bilder sehen?
Ich bin angewidert und empört. Ich will und werde all das bekämpfen. Aber ich spüre, wie es mich auch immer weniger berührt. So funktioniert die Eskalationsspirale. Ich merke, wie ich mehr und mehr abstumpfe. Das ist mit das Erschreckendste.