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Unterhaltsamer Twitter-Account Von Frust und Darmproblemen: Thomas Mann hört auf zu twittern

Thomas Mann und seine Frau Katia sitzen am Tisch
Katia Mann war es, die ihrem Mann Thomas den Rücken freigehalten hat. Ohne sie wäre seine Karriere wohl anders verlaufen
© Uncredited / Picture Alliance
Einmal so kreativ sein wie der große Schriftsteller Thomas Mann! Sollten Sie gerade eigentlich arbeiten, aber es klappt nicht? Dann ist dieser Text für Sie.

"Ging nach dem Frühstück wieder zu Bette." (23. März 1954)

"Neuerdings erkältet." (13. Februar 1920)

"Ich esse, um mich zu nähren und um rauchen zu können." (15. Dezember 1951)

Diese simplen Sätze stammen nicht etwa aus dem Gästebuch einer Frühstückspension, sondern von einem der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts: Thomas Mann. Bekannt für Werke wie "Die Buddenbrooks", "Der Zauberberg" oder "Der Tod in Venedig". Ein Autor vielfach gelobt für seine strenge Arbeitsmoral und Routinen. Täglich soll er gegen acht Uhr aufgestanden sein, darauf folgte die Arbeit zwischen neun und zwölf Uhr. Nachmittags erledigte er Korrespondenzen, dann das Abendessen um 20 Uhr. Ein Tagesablauf wie ein Uhrwerk, der seine schriftstellerische Leistung sicherstellen sollte.

Wer sich jetzt miserabel fühlt, weil das Beschriebene einem selbst nicht gelingt, kann das schlechte Gewissen getrost beiseite legen. Denn in seinen Tagebüchern hält Thomas Mann fest, wie oft ihm diese Routinen selbst nicht gelingen."Die Tagebücher sind im Grunde ein Kompendium von Störungen, die entstehen können, wenn jemand versucht, ein durchgetaktetes Schriftstellerleben zu führen", sagt Literaturwissenschaftler Felix Lindner im Gespräch mit dem stern. Lindner muss es wissen, denn er steckt hinter dem unterhaltsamen Twitter-Account "Thomas Mann Daily". Dort postet Lindner noch bis zum ersten April täglich einen Tagebuch-Eintrag von Thomas Mann. Dann meint er seinen Fundus erschöpft zu haben. Dieser Fundus sind zwischen 1933 und 1955 im Exil entstandene Tagebücher, als vermeintlichen Beweis seiner Leistung. "Tages-Rechenschaft", wie Mann die Bücher selbst nannte.

Jeder Post ist eine kleine Geschichte des Scheiterns

Dabei drehen sich die Tagebücher 365 Tage im Jahr nur um ihn selbst. Und darum, was ihn alles von der Arbeit ablenkt: "Der Pudel stört, die Hausfrau stört, der Schnupfen stört", beschreibt Lindner die tägliche Zerstreuung des großen Schriftstellers. Ab und an schreibt Thomas Mann von Erfolg und Zufriedenheit. Doch das Gros der Einträge ist eine simple Zusammenfassung seiner Stimmung – häufig geprägt von Schlaf- oder Darmproblemen. Jeder Eintrag zeichnet eine kleine Chronik des Scheiterns: Woran hat et denn heute jelegen?

Deshalb würde Lindner wohl auch jedem Menschen abraten, der sich einbildet: Lebe ich wie Thomas Mann, schreibe oder arbeite ich wie Thomas Mann. Denn sein Thomas Mann Daily-Account zeigt dem Literaturwissenschaftler zufolge auch: "Diesen Tagesablauf von vermeintlich kreativen Heroen gab es als Ideal – aber er wurde nie durchgehalten." Ganz im Gegenteil: "Diese Leute haben genauso wie wir jeden Tag mehr oder weniger gehasst, dass sie jetzt schreiben und kreativ sein müssen."

Der Twitter-Account ist entstanden, weil Felix Lindner sich in seiner Dissertation mit den Arbeitsroutinen von Schriftstellern zu Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Viele führten damals Tagebuch, zeichneten Rituale und Alltäglichkeiten auf, mit denen sie ihre Produktivität messbar machen wollten: "Heute kann eine Smart Watch diese Daten übersetzen, das ging damals nicht." Franz Kafka machte Turnübungen, Robert Musil zeichnete Graphen über seine sexuellen Aktivitäten. Dabei stellt Lindner in der Debatte über die großen Schriftsteller vor allem eines fest: "Die Zerstörung des Genie-Gedankens ist immer noch nicht abgeschlossen."

Die Personen im Hintergrund regeln den Alltag des künstlerischen Genies Thomas Mann

Was ebenfalls nicht thematisiert wird: Viele der sogenannten Genies erreichen dieses Level an Produktivität lediglich, weil andere Personen – überwiegend Frauen – alle anderen Aufgaben erledigen. Katia Mann, die Frau im Hintergrund, erledigte den Haushalt, seine Briefarbeit, zog die Kinder auf und chauffierte den Schriftsteller durch die Gegend. "Diese Routinen sind von der Zeit anderer Leute erkauft", bringt es Felix Lindner auf den Punkt. Wer sich die sogenannte "Carearbeit" (Hausarbeit, Kindererziehung, Altenpflege etc.) heute zuhause aufteilt, wird es also kaum schaffen, Routinen zu etablieren, die an die Abläufe von Thomas Mann heranreichen.

Felix Lindner
Felix Lindner ist Literaturwissenschaftler und schreibt seine Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin. Darin beschäftigt er sich mit Versuchen der Arbeitsoptimierung von Schriftstellern zu Beginn des 20. Jahrhunderts – unter anderem mit Thomas Mann.
© Svenja Heinrichs

Thomas Mann ist wohl einer der größten Schriftsteller der jüngeren deutschen Geschichte. Er war seinen Tagebüchern zufolge aber auch launisch, jammerte gern und konnte sich die im Nachhinein gerühmte Tagesstruktur nur leisten, weil seine Familie ihm diese ermöglichte. Lindner hat neben der wissenschaftlichen Distanz zu seinem Forschungsobjekt Thomas Mann vor allem eines aus dem Tagebuch-Gesamtwerk von 4300 Seiten mitgenommen. Das ideale Schriftstellerleben – "das klappt nicht".

Die Tagebücher selbst sind ein Ausdruck zeitgenössischer Ehrlichkeit, die Thomas Mann in dieser Form vermutlich nicht veröffentlicht hätte. Zumindest nicht auf Twitter. Der Schriftsteller, erzählt Lindner, hatte die Tagebücher am Ende seines Lebens in seinem Haus am Zürichsee in eine Kiste gepackt, verschnürt, und mit der Beschriftung versehen: 'Daily notes from 1933-1955 – without any literary value'. Tägliche Notizen, ohne jeglichen literarischen Wert.

Quellen:  Twitter, WDR, BR

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