was macht eigentlich ...? Das Bild von Olena Kurylo ging am ersten Tag des Kriegs um die Welt. Wie geht es ihr heute?

Der erste Tag des Krieges in der Ukraine: Das Bild der verletzten Olena Kurylo ging um die Welt
Der erste Tag des Krieges in der Ukraine: Das Bild der verletzten Olena Kurylo ging um die Welt
© ddp/abaca press
Am ersten Tag des Kriegs in der Ukraine ging ihr Bild um die Welt: Am frühen Morgen des 24. Februar schlug vor dem Haus von Olena Kurylo eine der ersten russischen Raketen ein. Im Gespräch mit dem stern spricht sie über den Moment des Angriffs und ihr Leben danach. 

Frau Kurylo, wie sah Ihr Leben vor dem Krieg aus?
Ich bin professionell ausgebildete Choreografin und habe mich diesem Beruf 24 Jahre lang gewidmet. Die letzten vier Jahre habe ich aber als Erzieherin in einem Kindergarten gearbeitet und diese Arbeit geliebt. Immer wenn ich in den Urlaub fuhr, konnte ich es kaum erwarten, die Kinder wiederzusehen. Ich hatte ein gutes Leben in meiner Zweizimmerwohnung am Rande von Tschuhujiw.

Wann war Ihnen klar, dass es zum Krieg kommen wird?
Noch im Januar rechnete niemand damit, dass uns wirklich ein Krieg bevorsteht. Doch ich hatte eine böse Vorahnung: In der Nacht vom 20. auf den 21. Februar träumte ich, dass ich vor einem Bombenhagel fliehen muss. Ich habe meinen Kolleginnen von meinen Vorahnungen erzählt. Aber niemand hat mich ernst genommen.

Wie erinnern Sie den 24. Februar, den Tag der ersten Angriffe?
Am Vorabend bin ich um 22 Uhr ins Bett gegangen und sofort eingeschlafen. Mein damaliger Partner Nikolaj war in dieser Nacht bei mir. Um fünf Uhr morgens weckten uns Explosionen. Meine ersten Worte waren: Es hat angefangen. Wir wussten sofort: Wir müssen weg. Während ich schnell ein paar Habseligkeiten zusammensuchte, fuhr Nikolaj zur Tankstelle. Auf dem Rückweg hatte er einen platten Reifen. Der hat ihm womöglich das Leben gerettet: In den 20 Minuten, in denen ich auf ihn gewartet habe, schlug die Rakete ein.

Olena Kurylo wurde 1969 in Tschuhujiw geboren. Sie machte eine Ausbildung zur Choreografin, besuchte die Akademie der Kultur in Charkiw. Später ließ sie sich zur Erzieherin umschulen. Zur Behandlung ihrer Verletzungen musste sie die Ukraine verlassen. Ihre einzige Tochter lebt noch dort.
Olena Kurylo wurde 1969 in Tschuhujiw geboren. Sie machte eine Ausbildung zur Choreografin, besuchte die Akademie der Kultur in Charkiw. Später ließ sie sich zur Erzieherin umschulen. Zur Behandlung ihrer Verletzungen musste sie die Ukraine verlassen. Ihre einzige Tochter lebt noch dort.
© ddp/abaca press

Was geschah dann?
Ich saß auf dem Bett. Plötzlich gab es einen Knall. Die Fenster zersplitterten. Die Scherben trafen zuerst die Wand. Dann wurden sie in meine Richtung geschleudert. Ich habe dieses Bild wie eine Standaufnahme vor meinem inneren Auge: Splitter, die auf mich zufliegen. Sie trafen mich im Gesicht, an der Schulter, am Rücken. Es herrschte einen Augenblick lang vollkommene Stille. Dann setzten die Schreie ein. Das Blut floss mir in Strömen in die Augen. Ich spürte aber keinen Schmerz. Ich wickelte mir irgendwas um den Kopf und stürzte nach draußen.

Vor Ihrem Haus wurden Sie fotografiert. Ihr Bild ging um die Welt, es machte Sie zu einem der ersten Gesichter des Krieges.
Drei junge Männer in Schutzwesten kamen auf mich zu. Ich sah, dass sie von der Presse waren. Sie haben mich von allen Seiten fotografiert. Aber es war mir einerlei. Erst am nächsten Tag erfuhr ich, dass ich zu einer Berühmtheit geworden war.

Wie ging es für Sie weiter?
Ich harrte bis Mitte März in dem kleinen Häuschen von Nikolaj außerhalb der Stadt aus. Doch meine Verletzungen bereiteten mir Höllenqualen. In der Ukraine konnte mir niemand helfen. Also machte ich mich mit der Hilfe von Journalisten auf den Weg nach Polen, wo ich operiert werden konnte.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Wie geht es Ihnen heute?
Ich weiß nicht, wie mein Leben weitergehen soll. Ich brauche medizinische Hilfe. Auf dem rechten Auge bin ich fast blind. Ich habe meine Zähne verloren. Zurzeit fliege ich zwischen Warschau und London hin und her: Ein britischer Professor versucht, mein Auge zu retten. Spenden finanzieren die Operationen. Genauso wie meine Wohnung. Aber in ein paar Wochen laufen diese Hilfen aus. Dann weiß ich nicht, wie und wo ich leben soll. Dabei sehne ich mich so sehr nach meiner Heimat. Aber es gibt nichts, wohin ich zurückkehren könnte.

Sämtliche Folgen der Reihe "Was macht eigentlich ...?" finden Sie hier

Erschienen in stern 6/2023