Frau Kurylo, wie sah Ihr Leben vor dem Krieg aus?
Ich bin professionell ausgebildete Choreografin und habe mich diesem Beruf 24 Jahre lang gewidmet. Die letzten vier Jahre habe ich aber als Erzieherin in einem Kindergarten gearbeitet und diese Arbeit geliebt. Immer wenn ich in den Urlaub fuhr, konnte ich es kaum erwarten, die Kinder wiederzusehen. Ich hatte ein gutes Leben in meiner Zweizimmerwohnung am Rande von Tschuhujiw.
Wann war Ihnen klar, dass es zum Krieg kommen wird?
Noch im Januar rechnete niemand damit, dass uns wirklich ein Krieg bevorsteht. Doch ich hatte eine böse Vorahnung: In der Nacht vom 20. auf den 21. Februar träumte ich, dass ich vor einem Bombenhagel fliehen muss. Ich habe meinen Kolleginnen von meinen Vorahnungen erzählt. Aber niemand hat mich ernst genommen. "Was für ein Krieg?", lachten sie mich aus.
Ich hatte dennoch ein so ungutes Gefühl, dass ich mir einen kleinen Notvorrat angelegt habe: zwei Packungen Reis, zwei Packungen Buchweizen, zwei Kilo Zucker, zwei Liter Sonnenblumenöl. Nicht viel, aber etwas zu meiner eigenen Beruhigung.
Wie erinnern Sie sich an den 24. Februar, den Tag des russischen Angriffs?
Am Vorabend bin ich um 22 Uhr ins Bett gegangen und schlief sofort ein. Normalerweise habe ich einen leichten Schlaf. Doch in jener Nacht fiel ich in ein regelrechtes Nirvana. Mein damaliger Partner Nikolaj war in dieser Nacht bei mir. Um fünf Uhr morgens weckten uns Explosionen. Meine ersten Worte waren: Es hat angefangen. Wir wussten sofort: Wir müssen weg.
Ich suchte ein paar Habseligkeiten zusammen: meinen Silberschmuck, Dokumente, Fotos. Kleinigkeiten eben. Sonst habe ich nichts eingepackt. Ich hatte noch die Hoffnung, dass nur militärische Ziele beschossen werden, keine zivilen. Nikolaj fuhr währenddessen zur Tankstelle, um noch einmal zu tanken. Wir fürchteten, später keinen Benzin mehr zu bekommen. Auf dem Rückweg hatte er einen platten Reifen. Der hat ihm womöglich das Leben gerettet: In den 20 Minuten, in denen ich auf ihn gewartet habe, schlug die Rakete ein.

Erinnern Sie sich an den Augenblick, als die Rakete einschlug?
Ich saß auf meinem Bett, wartete auf Nikolai. Ich habe mir noch überlegt, den Müll hinauszutragen. Dachte mir aber: Ach, was soll's. Plötzlich zerriss ein lauter Knall die Luft. Die Fenster zersplitterten. Die Scherben trafen zuerst die Wand. Dann wurden sie in meine Richtung geschleudert. Ich habe dieses Bild wie eine Standaufnahme vor meinem inneren Auge: Splitter, die auf mich zufliegen. Sie trafen mich im Gesicht, an der Schulter, am Rücken.
Es herrschte einen Augenblick lang vollkommene Stille. Dann setzten die Schreie ein. Das Blut floss mir in Strömen in die Augen. Ich spürte aber keinen Schmerz. Ich dachte nur: Ich will noch nicht sterben. Ich muss mich zusammenreißen. Ich wickelte mir eine Bluse um den Kopf, die ich mir erst kurz zuvor für ein kommendes Fest gekauft hatte. Dann stürzt ich nach draußen. All die gesammelten Habseligkeiten waren vergessen.
Welche Situation fanden Sie draußen vor?
Vor dem Hauseingang stand schon ein Krankenwagen. Über meinem rechten Auge steckte eine große Scherbe in meiner Stirn. Ich bin zu den zwei Sanitäterinnen hin. Aber sie schauten mich nur an und sagten, dass ich ins Krankenhaus muss. Ich habe jedoch gesehen, dass aus dem Haus Leute herausgetragen werden, die viel schlimmer verletzt waren als ich. Und die Sanitäterinnen waren nur zu zweit.
In diesem Moment kehrte Nikolai zurück. Er half den beiden jungen Frauen, Verletzte zu bergen. Mir wurden die Wunden nur desinfiziert und verbunden. Dann wartete ich, während er mit den Sanitäterinnen noch drei Leute aus dem Haus trug.
Vor Ihrem Haus wurden Sie fotografiert. Ihr Bild ging um die Welt, es machte Sie zu einem der ersten Gesichter des Krieges. Wissen Sie noch, wie es entstanden ist?
Drei junge Männer in Schutzwesten kamen auf mich zu. Ich habe gesehen, dass sie von der Presse waren. Ich dachte zuerst, es wären unsere lokalen Journalisten. Aber es waren Amerikaner. Sie haben mich von allen Seiten fotografiert. Aber es war mir einerlei. Erst am nächsten Tag erfuhr ich, dass ich zu einem der ersten Opfer dieses Kriegs geworden war.
Wie ging es für Sie weiter?
Im örtlichen Krankenhaus wurde ich notdürftig versorgt. Aber ich wollte dort nicht bleiben. Ich hatte schreckliche Angst. Ständig waren Explosionen zu hören. Ich wollte da weg.
Nikolai hatte außerhalb der Stadt ein kleines Häuschen. Dorthin brachte er mich. Da setzten die Schmerzen an. Für mich begann die Hölle. Überall steckten noch Glasscherben. Wir versuchten sie auszuwaschen. Erst jetzt merkte ich, dass ich auch am Rücken und an der Schulter verletzt war.
Am nächsten Tag sollte ich wieder ins Krankenhaus. Aber die Bombardierung war so stark, dass ich mich nicht traute. Wir richteten uns im Keller ein. Jedes Mal, wenn die Explosionen wieder einsetzten, rannte ich dort hin.
Wie lange hielten Sie dort aus?
Bis Mitte März harrte ich in dem kleinen Häuschen von Nikolaj außerhalb der Stadt aus. Doch meine Verletzungen bereiteten mir Höllenqualen. Nikolai fand schließlich einen Mann, der mich nach Charkiw bringen konnte. Ich weiß bis heute nicht, wie viel Geld er ihm dafür bezahlt hat. Auf dem Weg in die Stadt flogen Raketen über uns hinweg. Sie flogen so niedrig, dass ich jedes Detail sehen konnte.
Am Bahnhof setzte er mich ab. Es fuhren aber bis zum Morgen keine Züge mehr. Also ging ich wieder nach draußen. Da fing das Bombardement wieder an. Und da hielt ein Wagen vor mir. Ein paar junge Männer boten mir an, mich nach Dnipro zu fahren.
Die Ärzte dort konnten mir jedoch nicht helfen. Niemand traute sich, mich zu operieren. Zumal ich gegen Anästhetika allergisch bin. Also machte ich mich mit der Hilfe von britischen Journalisten auf den Weg nach Polen, wo ich operiert werden konnte.
Wie geht es Ihnen heute?
Ich weiß nicht, wie mein Leben weitergehen soll. Ich brauche medizinische Hilfe. Auf dem rechten Auge bin ich fast blind. Ich habe meine Zähne verloren. Zurzeit fliege ich zwischen Warschau und London hin und her: Ein britischer Professor versucht, mein Auge zu retten. Spenden finanzieren die Operationen. Genauso wie meine Wohnung in Katowice. Aber in ein paar Wochen laufen diese Hilfen aus. Dann weiß ich nicht, wie und wo ich leben soll. Der Professor wäre sogar bereit, mich weiter zu behandeln. Aber ich habe kein Geld, um nach London zu fliegen. Dabei sehne ich mich so sehr nach meiner Heimat. Aber dort gibt es nichts, wohin ich zurückkehren könnte. Mein Zuhause liegt in Trümmern.