Es sollte ein großer, triumphaler Tag werden. Nachdem sein Sicherheitsrat Wladimir Putin förmlich anflehte, den selbstproklamierten Republiken von Donezk und Lugansk endlich die Freiheit zu gewähren, trat der Kreml-Herr vor die Kameras. Eine Stunde lang hielt er seiner Nation und mit ihr der ganzen Welt eine Lektion in Geschichte. Es war eine ganz eigene Geschichte, die Putin zum Besten gab, voller "Fakten", die die Welt aber zum ersten Mal vernahm.
Eine Stunde lang erzählte Putin, die Ukraine verdanke ihre pure Existenz Russland, den gutwilligen Geschenken aus Moskau, den naiven Fehlern der sowjetischen Führer. "Die Ukraine sollte den Namen Lenins tragen", schwadroniert Putin auf einem denkwürdigen Höhepunkt seiner alternativen Geschichte, in der eine Lüge sich an die nächste reiht. Wer dachte, Donald Trump kann lügen, hat Wladimir Putin noch nicht gehört. Undankbar, verräterisch, korrupt, betrügerisch: Es gibt fast nichts, was Putin "dem Regime, das die Macht über die Ukraine an sich gerissen hat", nicht unterstellt. Nach einer Stunde hielt ganz Russland gebannt den Atem an – in Erwartung einer Kriegserklärung an diesen "unwürdigen Staat", dem Putin förmlich jedes Recht auf Existenz abspricht.
Der Tag soll in die russische Geschichte eingehen
Aber nein. Eine Kriegserklärung gibt es am Ende nicht. Stattdessen erklärt Putin, die Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Jener Republiken, die er in der ganzen Stunde seiner Fantasy-Geschichte übergangen hat. Jener Republiken, deren Führer wie zufällig im Kreml sitzen und wenige Minuten später die Unabhängigkeitserklärungen unterzeichnen.
Es ist der Schlussakt in einem Theaterstück, mit dem Putin sich den Einmarsch in das geläuterte Land erlaubt. Es ist das Ende eines Tages, der in die russische Geschichte eingehen soll und der in langen Vorbereitungen orchestriert worden ist. Am Ende ist es Putin, der das Minsker Abkommen begräbt. Feuerwerke über dem Osten der Ukraine sind der krönende Abschluss.

Die Befehle, mit denen Putin so großzügig den Gebieten eines fremden Landes, die Unabhängigkeit verleiht, kamen es den Schubladen des Kremls. Mit ebensolchem Befehl schenkte der russische Präsident bereits 2008 Südossetien die Unabhängigkeit. Mit ein paar Handgriffen wurde aus Südossetien die Volksrepublik Lugansk und Volksrepublik Donezk. Schon waren die sonst wortgleichen Dekrete unterzeichnet.
Wladimir Putin macht Prophezeiung wahr
Es vergehen nur wenige Stunden und die sogenannten Republiken bitten Putin um Hilfe. Und Putin beordert seine Truppen auf ihr Territorium – zum Schutz der frisch gebackenen Unabhängigkeit. Putin befielt seinem Verteidigungsministerium den "Frieden durch die Streitkräfte der Russischen Föderation" sicherzustellen. Als dieser Befehl ergeht, ist es in Moskau bereits der 22. Februar 2022. Ein Datum, dem alle Anhänger der Numerologie, Astrologie und allem Übernatürlichem eine besondere Bedeutung beimessen. Im Kreml gibt es davon so einige, die einen aus ehrlicher Überzeugung, die anderen ihrem abergläubischem Volk zur Liebe. Im russischen Staatsfernsehen laufen seit Monaten Sendungen, die Großes an diesem Tag prophezeien. Jetzt erweist es sich, dass diese Kaffeesatzleserei kein Zufall war.
Im Kreml liebt man seit jeher symbolträchtige Daten: Vor acht Jahren ging am 22. Februar der Maidan in der Ukraine zu Ende.