Der Friedensnobelpreis würdigt in diesem Jahr Verteidiger der Menschenrechte in Osteuropa: Das Nobelkomitee verlieh die renommierte Auszeichnung an den belarussischen Politiker und Menschenrechtsaktivisten Ales Bjaljazki, die russische Menschenrechtsorganisation Memorial und die ukrainische Menschenrechtsorganisation Zentrum für bürgerliche Freiheiten (CCL). Die Preisträger hätten einen "außergewöhnlichen Beitrag" dazu geleistet, Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverletzungen und Machtmissbrauch zu dokumentieren, sagte die Vorsitzende des Komitees in der Begründung zu dieser Entscheidung.
Alexander Tscherkassow ist der Vorsitzende von Memorial, einer Organisation, die in diesem Jahr in Russland offiziell liquidiert wurde. Ausgerechnet jetzt bekamen die Menschenrechtsaktivisten den Friedensnobelpreis – nachdem sie sich zehn Jahre lang mit einer Nominierung begnügen mussten. Im Gespräch mit dem stern erklärt Tscherkassow, warum der Tag der Verleihung großen Symbolcharakter hat, wie die Repressalien-Maschine in Russland funktioniert und wie Tausende Menschen dennoch Widerstand leisten.
Herr Tscherkassow, haben Sie damit gerechnet, dass der Friedensnobelpreis in diesem Jahr an Ihre Organisation geht?
Tscherkassow: Wir wurden so viel Jahre für den Nobelpreis nominiert. Deswegen haben wir das gar nicht mehr als eine reale Möglichkeit betrachtet, dass wir den Preis tatsächlich bekommen könnten. Geschweige denn in diesem Jahr. Dem Jahr, in dem Memorial liquidiert wurde. Auf den 7. Oktober war zudem ein Gerichtstermin angesetzt, in dem es um die Beschlagnahmung des Moskauer Büros von Memorial ging. Wir hatten also etwas anderes im Kopf. Die Auszeichnung war daher eine immens große Überraschung.
Die Nachricht, dass Sie den Friedennobelpreis bekommen haben, kam zu dem Zeitpunkt, als in Moskau das Gericht tagte. Wie haben die Vertreter der Justiz reagiert?
Wie zu erwarten war. Getreu der sowjetischen Propaganda-Parole: "Die Diener des Weltimperialismus haben uns nichts zu sagen." Die Richterin unterbrach kurz die Sitzung und hielt Ratschlag – mit sich selbst versteht sich. Mit jemand anderem darf sie ja nicht Ratschlag halten. Und nach dieser Beratungsrunde mit sich selbst traf sie die einzig richtige Entscheidung: die Beschlagnahmung unseres Büros.
Das Datum der Verleihung des Preises fiel nicht nur auf den Gerichtstermin, sondern auch auf Putins Geburtstag. Wie mag er reagiert haben?
Wissen Sie, das kümmert mich überhaupt nicht. Auf die Realität reagiert er generell nervös. Auf jegliche Realität. Aber das Datum ist tatsächlich symbolträchtig. Der 7. Oktober ist der Tag des Mordes an Anna Politkowskaja. Der Nobelpreis wurde der gesamten russischen Zivilgesellschaft verliehen, der gesamten Zivilgesellschaft von drei Ländern Osteuropas, wo sie bedroht wird. In der Ukraine herrscht Krieg, in Belarus rollen Massenrepressalien, in Russland wird die Zivilgesellschaft erstickt. Der Preis wurde auch all jenen verliehen, die diesen Tag nicht mehr erleben durften.
Die Verleihung ist für Sie nicht nur ein Anlass zum Feiern, sondern ein Feiertag mit Tränen in den Augen, wie es in einem bekannten russischen Lied heißt.
Natürlich. Die Historikerin und Journalistin Natalja Estemirowa hat diesen Tag nicht mehr erlebt. Mit ihr haben wir in Tschetschenien zusammengearbeitet. Unser Kollege Jurij Dmitriew sitzt unschuldig im Gefängnis. Viele waren gezwungen, Russland zu verlassen. Und Memorial wurde liquidieret. Dieser Preis wurde uns also faktisch post mortem verliehen.
Wird der Preis Ihnen helfen, die Arbeit trotz der juristischen Liquidierung von Memorial fortzuführen?
Der Preis ist nicht nur Symbol für uns. Er konstatiert eine gewisse Einigkeit der Zivilgesellschaft, die über Staatsgrenzen hinweg besteht. Die drei ausgezeichneten Organisationen arbeiten zusammen, wir gehören einer Vereinigung an. Die Erinnerung daran ist sehr wichtig für die Machthaber aller Länder.
Der Preis wird jeder der ausgezeichneten Organisationen helfen. Und natürlich werden auch die finanziellen Mittel gebraucht. Erinnern wir uns zum Beispiel an Alexander Solschenizyn. Er hatte sein Preisgeld für die Hilfe für politische Häftlinge verwendet hat.
Doch der Nobelpreis hat weder Alexander Solschenizyn noch Andrej Sacharow beschützt. In Russland bietet der Nobelpreis keinen magischen Schutzschild. Wenn eine Order von oben kommt, wird sie erfüllt werden.
Immer wieder wird im Westen die Frage gestellt, warum es keinen großen Widerstand in Russland gegen das Putin-Regime gäbe. Ist die Verleihung des Nobelpreises an Ihre Organisation eine Erinnerung daran, dass es diesen Widerstand doch gibt?
Diese Frage kann so bequem gestellt werden, wenn man in Berlin oder Paris sitzt. Die Repressalien-Maschine funktioniert in Russland aber so: Es gibt vielleicht einige Hundert Strafverfolgungen wegen Aktionen gegen den Krieg. Auf den ersten Blick nicht viel, aber es gibt ja noch andere Maßnahmen. Im Juli wurden etwa 3000 Protokolle wegen Ordnungswidrigkeit erstellt. Gemäß dem Gesetz wird jedoch eine Strafverfolgung eingeleitet, sobald ein zweites Protokoll dieser Art entsteht. Das heißt, dass 3000 Menschen eine Strafverfolgung befürchten müssen, sobald sie auf die Straße gehen.
In der Sowjetzeit gab es eine ähnliche Taktik. Auf jeden politischen Häftling kamen etwa Hundert vorgewarnte Menschen, gegen die irgendwelche Repressalien wegen Ordnungswidrigkeiten verhängt worden waren. Auf diese Weise zeigte man den Menschen, wie sie sich lieber nicht verhalten sollten. Diese Praxis fand in den Jahren wischen 1959 bis 1987 ihre Anwendung, und zwar in allen Sowjetstaaten. Und so haben wir zwar nicht die Zustände des Jahres 1937, des großen stalinistischen Terrors. Aber die Zustände des Jahres 1973.
Das Regime setzt also auf das Schüren der Angst vor strafrechtlicher Verfolgung.
Absolut. Dazu kommt der Umstand, dass es zwar keine Todesstrafe mehr gibt, aber dafür politische Morde. Erst vor kurzem hat das Team von Alexej Nawalny eine Reihe von Giftanschlägen auf Oppositionelle aufgedeckt. Es finden also weiter Exekutionen statt.
Und die Zustände in den Gefängnissen dürfen auch nicht vergessen werden. In einigen sterben Menschen, in anderen werden sie gefoltert. Wir sehen also die Rückkehr jener Repressalien-Maschine, die vor 50 Jahren bereits effektiv war.
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Welcher Weg bleibt dann, um Widerstand zu leisten?
Auch vor 50 Jahren gab es keine Massendemonstrationen. Aber es gab etwas anderes, zum Beispiel die Hilfe für politische Gefangene. Und auch heute gibt es etwas anderes, zum Beispiel die massive Hilfe an ukrainische Flüchtlinge. Nur weil nicht Tausende auf die Straße gehen, heißt das nicht, dass es allein in Moskau nicht Tausende Menschen gibt, die ukrainischen Flüchtlingen helfen.
Es gibt keine Massenproteste, also unterstützen sie alle Putin. Und wenn alle Putin unterstützten, dann tragen alle die kollektive Schuld an dem Krieg mit der Ukraine. Aber das ist eine sehr einfache Denkweise. Die Zustände in Russland sind anders als in den Ländern, wo die Menschen sich glücklicherweise an ein freies Leben gewöhnen konnten.