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Historiker erklärt Pervertiert und entstellt: Wie Putin die Geschichte manipuliert und wer diese Taktik schon mal verwendet hat

Wladimir Putin bei einer Marineparade im Juli 2021
Wladimir Putin bei einer Marineparade im Juli 2021. Er sonnst sich gerne in den Glanzlichtern der Geschichte und münzt sie für seine Zwecke um 
© Alexei Nikolsky / Picture Alliance
Ukraine als Kunstprodukt, von Russland erschaffen und zur ewigen Dankbarkeit verpflichtet: Das ist die Geschichte, die Wladimir Putin die Welt glauben lassen will. Eine Version der Vergangenheit, die von dem Durst nach Vergeltung und der Idee von imperialer Größe bestimmt ist – und einem eigennützigen Ziel dient. 

Bevor Wladimir Putin am vergangenen Montag die Volksrepubliken Donezk und Luhansk für Unabhängig erklärte und damit der Ukraine faktisch den Osten des Landes nahm, bekam die Weltöffentlichkeit eine Geschichtslektion. Eine Demonstration eines entstellten Geschichtsverständnisses, sagt der Historiker Nikita Petrow. Doch hinter der Umschreibung steht ein eindeutiger Zweck: der Erhalt der Macht durch die Manipulation der Massen.

stern: Herr Petrow, die Welt ist am Montagabend in den Genuss einer einstündigen Lektion in Geschichte gekommen. Wladimir Putin legte seine ganz eigene Sicht auf das Weltgeschehen der letzten 100 Jahre dar, bevor er die Unabhängigkeit der Separatisten-Gebiete in der Ukraine erklärte. Was halten Sie von Putins Version der Geschichte? 

Petrow: Der Auftritt zeigt für mich vor allem eins: Russland lebt noch immer in seiner Vergangenheit und begeht dieselben Verbrechen wie einst die Sowjetunion. Seine Darstellung der Geschichte ist nicht mehr bloß obskur. Sie folgt einer verbrecherischen Logik, bestimmt von dem Durst nach Vergeltung und der Idee von imperialer Größe.

Putin entstellt die gesamte Geschichte und pervertiert ihre Bedeutung, auch die der sowjetischen Geschichte. Die Sowjetunion wurde auf anderen Prinzipien aufgebaut als das russische Zarenreich. Aber Putin will beides unter unter einen Hut bringen – indem er sich die Momente raussucht, die ihm gerade passen. Von den Zaren guckt er den Aufbau des politischen Systems ab, von den Sowjets übernimmt er die Militärstrategie. Putin und der Kreml haben einen sehr kreativen Zugang zur Geschichte, einen utilitaristischen. Putin hat nicht einfach nur Lügen erzählt, sondern eine grundlegend falsche Interpretation der Geschichte demonstriert.

Nikita Petrow

Nikita Petrow, geboren in Kiew, ist heute der stellvertretende Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Memorial. Der Historiker ist auf Publikationen über Verbrechen der sowjetischen Geheimdienste während der Stalinzeit spezialisiert. Nach dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 wurde er vom russischen Verfassungsgericht in die Expertenkommission für den Prozess um das Verbot der KPdSU berufen, das der russische Präsident Boris Jelzin verfügt hatte. Von 1992 an durfte Petrow erstmals auch in den Archiven der sowjetischen Geheimdienste von Tscheka bis KGB arbeiten. Im Mittelpunkt seiner Tätigkeit standen Publikationen über die Geheimdienste sowie Prozesse um den Zugang zu den Archiven, der seit Mitte der 1990er Jahre wieder restriktiv gehandhabt wurde.

Petrow vertritt die Ansicht, dass die Sowjetunion wegen ihres Bündnisses mit dem Dritten Reich, das im Ribbentrop-Molotow-Pakt besiegelt wurde, in gleicher Weise Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs trägt. Eine Sicht, die Russland niemand hören will. Im November 2021 beantragte die russische Staatsanwaltschaft, Memorial und ihre regional in Russland aktiven Einrichtungen aufzulösen. Das Oberste Gericht vollzog die Auflösung schließlich am 28. Dezember 2021.

"Die moderne Ukraine wurde vollständig von Russland geschaffen, genauer gesagt, dem bolschewistischen, kommunistischen Russland", sagte Putin wörtlich. Die Ukraine müsste den Namen Lenins tragen. Er sei der Architekt des Landes. Hat die Ukraine ihre "Staatlichkeit" tatsächlich den Kommunisten zu verdanken?

Das ist nicht die Wahrheit. Die Idee der ukrainischen Selbstständigkeit entstand lange bevor es die Sowjetunion gab. Die Ukrainische Volksrepublik wurde nach der Oktoberrevolution 1917 aus den ukrainischen Gebieten gegründet. 1918 wurde Wsewolod Holubowytsch zum ersten Ministerpräsidenten dieser Volksrepublik. Als das Land später sowjetisiert wurde, existierte der Staat, der bis dahin entstanden ist, einfach in einer anderen Form weiter. Jetzt davon zu sprechen, man sei der Urheber der bestehenden Grenzen und habe die Existenzbedingungen diktiert, ist eine Lüge. 

Lenin und Stalin haben einst eine Illusion der Staatlichkeit für die kleineren Nationen des zerfallenen russischen Imperiums geschaffen. Das war der einzige Weg, das Imperium wieder zu vereinen. Im Kreml streitet man dies jedoch ab und denkt man könne zu den vorrevolutionären Zuständen zurückkehren. 

Putin sprach von vielerlei russischen Geschenken an die Ukraine: Von der Nationalstaatlichkeit durch Lenin, über polnische, rumänische und ungarische Gebiete durch Stalin bis zur Krim durch Chruschtschow. 

Der Kreml verdreht die Geschichte so, dass Russland als der Wohltäter der Welt dasteht. Nur Russland sei es zu verdanken, dass all das existiert, was früher Sowjetunion hieß. Gleichzeitig behauptet Putin, Lenin und Stalin hätten mit der Idee der nationalen Staatlichkeit eine tickende Zeitbombe gelegt. Diese künstlich gezogenen Grenzen seien es, die zum Zerfall der Sowjetunion geführt hätten. Wieder eine Lüge. Für den Zerfall der Sowjetunion gab es eine ganze Reihe von Gründen. Falsch gezogene Grenzen gehörten jedoch nicht dazu. Was wir heute sehen, ist die Umdeutung der Geschichte zur Manipulation der Massen.

Die Sowjetunion war die Vereinigung von Staaten auf einer freiwilligen Basis und der Möglichkeit, diesen Verbund wieder zu verlassen. Wenn dieses Recht noch 1922  niedergeschrieben worden ist, wie kann man dann heute von einem Geschenk sprechen? Das ist Demagogie. Russland agiert wie ein Verbrecher und spuckt auf seine internationalen Verpflichtungen. 

Wozu dient diese Umschreibung der Geschichte?

Unsere Bevölkerung ist sehr empfänglich für solch eine Rhetorik. Auf der einen Seite sind die Russen überzeugt, mächtig, souverän und besonders zu sein. Auf der anderen Seite leidet die russische Gesellschaft unter einem Minderwertigkeitskomplex, der vom Kreml kultiviert wird. Der Westen will nicht unser Freund sein, heißt es. Dabei hat Putin während seiner über 20-jährigen Herrschaft alles getan, um einen Keil zwischen Russland und den Westen zu treiben. Er hat wieder den eisernen Vorhang entrollt – mit jedem Schritt, den er unternommen hat. 

Putin trauert der verlorenen Weltgeltung Russlands nach. Das ganze Gerede über eine multipolare Welt, über Blöcke, über die Nato hat hier ihren Ursprung. Von der Nato geht für Russland keine Gefahr aus. Aber der Kreml will sein Volk glauben lassen, der Nato-Block sei eine Gefahr. Der Kreml muss der Bevölkerung einen Feind präsentieren. Damit die Bevölkerung denkt, dass der Feind von außen kommt, und nicht im Kreml sitzt. Für die aktuelle Regierung ist das der einzige Weg, an der Macht zu bleiben. 

In seiner Rede erwähnte Putin Bill Clinton und die unerfreuliche Reaktion des damaligen Präsidenten, als Putin sich vor vielen Jahren mal nach den Beitrittsmöglichkeiten Russlands in die Nato erkundigt hat. Die Episode hat Putins Ego sichtlich verletzt. Warum erzählt er immer wieder von dieser Demütigung? 

Um unserer Bevölkerung ein weiteres Mal vor die Augen zu führen, dass die Nato uns nie in den eigenen Reihen sehen wollte. Dass der Westen auf uns immer als Geächtete herunterblickt. Schon unter Jelzin fing die Anti-Nato-Rhetorik an, angefangen mit der Krise im damaligen Jugoslawien. Schon damals hat Russland eine destruktive Rolle gespielt. Moskau hat den ehemaligen Präsidenten Serbiens, Slobodan Milošević, zu Verbrechen angestiftet. Moskau hat auch den ehemaligen Herrscher Libyens, Muammar al-Gaddafi, unterstützt. Aber davon will der Kreml nicht sprechen.

Ist Putin womöglich inzwischen selbst Opfer seiner eigenen Propaganda geworden und sieht Russland durch die Nato bedroht? Oder ist es pures Kalkül?

Mit diesem Bedrohungsszenario manipuliert Putin die Massen. Er weiß, dass die Nato Russland nicht bedroht. Aber man muss der Bevölkerung einbläuen: Wir werden von allen gekränkt, beleidigt, erniedrigt. Alle wollen uns berauben, erobern oder klein halten, damit wir nicht zu unserer wahren Größe aufsteigen können. Wer einen Blick in die Vergangenheit wirft, wird sehen: So eine Taktik hat bereits ein anderer Mann verwendet. Hitler. 

Für Hitler war einst die vermeintliche Ungerechtigkeit des verhassten Versailler Vertrags das Mittel zum Zweck. Für Putin ist es nun die vermeintliche Unrechtmäßigkeit der sowjetischen Verträge, die der Ukraine den Status eines Nationalstatus verliehen. Wie sehr sich die Rhetorik von Putin und Hitler gleicht, lesen sie im zweiten teil des Interviews mit Nikita Petrow. 

  

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