Als Russland zum letzten Mal eine Mobilmachung erlebte, schrieb man das Jahr 1941. Als Adolf Hitler die Sowjetunion in einem Vernichtungskrieg überfiel. Nun mutet Wladimir Putin seinem Volk nach über 80 Jahren eine neue Mobilmachung zu. Seit einer Woche wird in Russland mobilisiert. Doch dieses Mal hat niemand das Land angegriffen. Und das weiß auch der Großteil der Nation – obwohl der Kreml die Bevölkerung mit allen Mitteln glauben lassen will, man befinde sich in einem Verteidigungskrieg gegen die Nato. (Zu der Arbeit der Propaganda-Maschine des Kremls lesen Sie hier.)
Doch wenn es ums eigene Leben geht, um das Leben der eigenen Söhne, Ehemänner, Brüder und Freunde, fallen die Scheuklappen schneller als es dem Oberbefehlshaber in Moskau lieb sein könnte. Mehrere hunderttausend Männer sollen das Land auf der Flucht vor der Mobilisierung bereits verlassen haben. An den Außengrenzen bilden sich kilometerlange Schlangen. Am Montag verlegte der FSB an die Grenze zu Georgien Schützenpanzerwagen. Dies geschehe für den Fall, dass die Menschen die Grenze durchbrechen sollten. So zumindest die Begründung des Geheimdiensts. Am Dienstag gab die Regierung der angrenzenden Republik Nordossetien bekannt, dass diejenigen, die versuchen die Grenze zu passieren, vor Ort Einzugsbescheide bekommen.
Während die einen bis zu 36 Stunden in Autoschlangen ausharren, um dem Einzug in die Armee doch noch vielleicht zu entkommen, wählen andere den Weg des Protests. Es sind die Regionen, die an Georgien grenzen, die sich am entschiedensten gegen die Mobilmachung zur Wehr setzen: Dagestan, Inguschetien, Tschetschenien. Experten sprechen von radikalsten Protesten seit langer Zeit.
"Unsere Kinder sind kein Dünger"
Am 22. September blockierten Demonstranten in Dagestan in einem beeindruckenden Protest eine Bundesstraße.
Am 25. September gingen in der Stadt Naltschik in Teilrepublik Kabardino-Balkarien Frauen auf die Straße. Vor dem Regierungsgebäude demonstrierten sie gegen die Entsendung ihrer Söhne und Ehemänner an die Front. "Ich werde meinen Mann nicht aufgeben, selbst wenn sie mich erschießen", erklärte eine der Demonstrantinnen den Vertretern der Verwaltung. "Sind wir angegriffen worden, oder was? Die Ukraine hat uns nicht angegriffen", rief eine andere.
Zur gleichen Zeit fanden auch in der Teilrepublik Dagestan Proteste statt. Einwohner des Dorfes Endirei blockierten im Kampf gegen den Einzug ihrer Nachbarn eine Autobahn. Lokale Medien berichteten, dass aus dem Dorf mit insgesamt 8000 Einwohnern 110 Reservisten einberufen worden sind. Die Sicherheitskräfte gaben Schüsse in die Luft ab, um die Menge auseinander zu treiben.
In Machatschkala gerieten Hunderte von Frauen in Auseinandersetzungen mit der Polizei. "Unsere Kinder sind kein Dünger", skandierten sie. Mehr als 100 Menschen wurden festgenommen.
Widerstand gegen die Staatsgewalt
Am 26. September entbrannten die Proteste in Machatschkala aufs Neue. Zwischen den Demonstranten und der Polizei brach eine Massenschlägerei aus. Festgenommene wurden wieder den Händen der Polizisten entrissen. Später riegelte die Polizei und die Nationalgarde den Lenin-Platz ab und nahm junge Menschen fest. Die Beamten durchsuchten ihre Telefone, um herauszufinden, ob sie die Proteste gefilmt haben.
"Jetzt ist das Fass übergelaufen"
Swetlana Issajewa, Menschenrechtsaktivistin aus Dagestan, ist überzeugt, dass die Proteste die ersten Vorboten von Ereignissen sein können, die viel schwerwiegender ausfallen werden. "Es gibt zu viele Verluste in Dagestan. Zu viele unserer Söhne sind ins Jenseits gegangen. Nur weiß niemand, wofür", schildert sie die Situation gegenüber der lokalen Zeitung "Kavkaz.Realii". "Warum sollten wir zu den Ersten gehören, die die Reihen dieses finsteren Vorgehens schließen müssen? (...) Wir Mütter wollen nicht, dass unsere Söhne für die Interessen von jemand anderem sterben", argumentiert Issajewa.
Sie glaubt, dass die Anti-Kriegs-Proteste im Nordkaukasus von Frauen getragen werden. "Seit langem findet in unserer Republik der sogenannte Kampf gegen den Terrorismus statt, für den Sicherheitskräfte Männer entführen und ihnen Waffen oder Patronen in die Hände drücken. Jeder weiß davon. Und es hat sich in der Gesellschaft etwas aufgestaut. Jetzt ist das Fass übergelaufen. Die Mobilmachung hat das Volk aufgerüttelt", sagt die Menschenrechtsaktivistin.
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"Dies wird für das gesamte Machtsystem zur Katastrophe"
"Die Ankündigung der Mobilisierung war ein katastrophaler Fehler von Putin, der ihn in eine Situation von Zugzwang bringt", sagt der Leiter der ukrainischen Expertengruppe "Sowa", Professor Mikhail Sawwa. "Jede nachfolgende Aktion wird zu einer Verschlechterung der Situation führen. In einigen Regionen wurden bereits Reservisten, die eigentlich nicht mobilisiert werden sollten, wieder entlassen. Die Behörden haben eine Schwäche gezeigt, die ihnen nicht eigen ist", führt Sawwa aus.
Wenn die föderalen Sicherheitskräfte und regionalen Behörden mit Gewalt die Proteste auseinandertreiben, würden sich bald traditionelle Strukturen des Kaukasus – Clans, Militärbündnisse und religiöse Bruderschaften – dem Protest anschließen. "Dies wird für das gesamte Machtsystem zur Katastrophe", sagt Sawwa und fasst die Situation zusammen: "Die Mobilisierung wird den Mythos zerstören, dass der der gesamte Nordkaukasus hinter Putin steht."
Mobilmachung entlarvt die Fiktion
Der Nordkaukasus kennt den Krieg in der Ukraine nicht bloß von den Fernsehbildschirmen. Es waren die Einwohner der nordkaukasichen Republiken, die unter den ersten Truppen, die ausgeschickt worden sind, die Ukraine zu erobern, so zahlreich vertreten waren. Es waren Soldaten aus den Republiken Kabardino-Balkarien und Nordossetien, die die meisten Klagen gegen ihre Entlassung eingereicht haben, nachdem sie sich geweigert hatten, in der Ukraine zu kämpfen. Und das, obwohl es zu Beginn des Kriegs so ausgesehen hat, als unterstütze der Nordkaukasus Putins Invasion. "Viele Leute klebten sich das "Z" (das Symbol der russischen Armee in der Ukraine, Anm. d. Red.) an die Autos, Freiwillige aus Dagestan gingen an die Front, auch in den Einheiten Kadyrows", erzählt Oleg Orlow, Mitglied des Rates der neu gegründeten Menschenrechtsorganisation Memorial Center in einem Interview mit "Kavkaz.Realii."
"Aber es hat sich herausgestellt, dass die Massenunterstützung nur ein Schein war, eine Fiktion. Tatsächlich verstehen die Bewohner des Nordkaukasus, die selbst seit vielen Jahren in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt waren, die als Zivilisten bewaffnete Gewalt erlebt haben, was ihre Söhne und Ehemänner in der Ukraine erwartet“, sagt Orlow.
"Gefährlich nahe am Rand eines Aufstands"
Der Chefredakteur von "Nowaja Gazeta.Europa", Kirill Martynow, glaubt, dass der Nordkaukasus sich "gefährlich nahe am Rand eines Aufstands" befindet. "Dagestan ist eine besondere Region. Als Putin an die Macht kam, hat er Dagestan und dem ganzen Land Frieden versprochen. Mithilfe von Kadyrow stoppte er den Zweiten Tschetschenischen-Krieg, sodass der Krieg nicht auf den gesamten Nordkaukasus übergriff", erzählte Martynow dem unabhängigen Sender Dozhd. "Diese Leute verstehen wunderbar, was ein Krieg bedeutet. Und nachdem sie jetzt in einen fremden Krieg im Ausland geschickt werden, waren sie die ersten, die massenweise offen benannt haben, was gerade geschieht. Eben dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Und dass sie diesen Krieg nicht brauchen."
Wie ernst die Situation im Nordkaukasus ist, zeigt auch die Reaktion von Ramzan Kadyrow. Der Präsident von Tschetschenien, der sich den Ruf des Bluthunds Putins erworben hat, verkündete, dass es zumindest in Tschetschenien keine Mobilmachung geben werde. Man habe den Plan bereits in den ersten Monaten des Kriegs um 254 Prozent übertroffen.