Am Morgen des 8. Oktober wurde Wladimir Putin mit einer eiligen Nachricht geweckt. Um 6 Uhr morgens hatte eine Explosion die Krim-Brücke erschüttert. Teile der Fahrbahn stürzten ins Meer. Auf den Gleisen brannte lichterloh ein Zug. Die offizielle Erklärung aus Moskau folgte einige Stunden später. Ein Lkw soll explodiert sein. Die Flammen hätten die Kraftstofftanks des Zuges, der in diesem Moment auf den Gleisen vorbeifuhr, zur Detonation gebracht. Doch dies ist nicht die einzige Version des Geschehens. Im Gespräch ist auch eine Explosion von unten oder mehrere Sprengvorrichtungen.
Doch unabhängig davon, wie es genau zu der Explosion gekommen ist, ist der moralische Schlag, den das Putin-Regime erdulden muss, gravierend. "Manchmal genügt ein kleiner Stein, um eine ganze Lawine in Gang zu setzen. Und die Explosion auf der Krim-Brücke könnte zu solch einem Stein werden", sagt Politologe Abbas Galljamow. "Die Krim-Brücke ist enorm symbolträchtig. (...) Sie ist das Symbol der imperialen Sicherheit, der militärischen Macht. Die Brücke wurde aus der Luft, vom Land, vom Wasser aus bewacht; mit Kampfdelfinen, Tauchern, Unterwasser-Drohnen. Wie oft hat man uns davon im Staatsfernsehen erzählt?", erinnerte der Experte im Gespräch mit dem unabhängigen Sender Dozhd.
Der Angriff auf die Brücke führe der ganzen Gesellschaft und den Eliten eindrücklich vor, dass der Tiger nur aus Papier besteht. "Alles, was er kann, ist nur reden. Jetzt werden alle auf Putin schauen. Wie wird er antworten? Aber wie kann er schon antworten?" Selbst ein Beschuss Kiews würde niemanden mehr überraschen. Schließlich lasse Putin jeden Tag ukrainische Städte beschießen.
Wachsendes Gefühl der Verletzlichkeit
Auch der Jurist und Aktivist Mark Fejgin hebt die symbolische Bedeutung der Brücke hervor. "Die Krim-Brücke symbolisiert, dass die Krim keine Halbinsel ist, sondern Teil des russischen Landes. Und jetzt ist diese Arterie zerstört. Jetzt muss dem eigenen Publikum erklärt werden, wie man diese Arterie verlieren konnte. Ich sehe bislang keine Beschwerden in Richtung von Putin selbst. Aber es herrschen Angst, Nervosität, Empörung. (...) Ich denke, das war auch das Ziel: Ein Gefühl der Verletzlichkeit zu erzeugen."
Und dieses Gefühl werde wachsen. Jeder mobilisierte Soldat müsse sich angesichts der Explosion fragen: "Wenn sogar solch ein wichtiges strategisches Objekt nicht geschützt ist, was ist dann mit mir?", erklärt Fejgin im Gespräch mit dem Youtube-Kanal "Populäre Politik".
Krim-Brücke "beschädigt" statt "zerstört"
Die Symbolhaftigkeit der Krim-Brücke ist auch der Kreml-Propaganda bewusst. Waren es doch die Propagandisten selbst, die den Superbau zu einer Art Nationalheiligtum erhoben haben. Nach einem kurzen Moment des Schocks, ergingen am Samstag die ersten Leitfäden aus dem Kreml. So sollen die Propagandisten keineswegs von "Zerstörung" reden, sondern "Beschädigung". Das übliche Spiel der Verschönerung und Vertuschung hat also begonnen.
Der Politologe Michel Naki glaubt aber, dass schon bald ein Schuldiger benannt wird. "Als Hauptverantwortliche für diese Blamage werden die Geheimdienstler ernannt werden", sagte er. Besonders wenn man davon ausgehe, dass die Version mit dem explodierten Lkw stimmt. "Einen Lastwagen mit Sprengstoff zu schmuggeln, ist eine schwierige Aufgabe. Man muss schließlich dafür in Kriegszeiten den Sprengstoff erwerben, verladen und transportieren. Und das alles auf einem Territorium, dass komplett von der Russischen Föderation kontrolliert wird. Wenn demnächst Köpfe rollen werden, dann werden es die der Geheimdienstler sein. Denn dies ist ihr großes Versagen."
"Eine Art Symptom der Konflikte innerhalb Russlands"
Der Militärbeobachter Iwan Yakowin teilt diese Einschätzung: "Verantwortlich für diese Geschichte wird höchstwahrscheinlich der FSB gemacht. Wer war schließlich für den Schutz dieser Brücke zuständig", sagte er im Interview mit "Radion Swoboda". Vielleicht sei die Explosion sogar "eine Art Symptom der Konflikte zwischen verschiedenen Machtgruppen innerhalb Russlands. Dem Militär wurde der Fall von Liman, der Region Cherson und so weiter vorgehalten. Vielleicht hat sich das Militär auf diese Weise am FSB gerächt. Ganz ausschließen würde ich es nicht."
Jetzt werde der FSB einem Angriff ausgesetzt sein. "Denn für Wladimir Putin ist die Krim-Brücke millionenfach wichtiger als die Stadt Lyman und die gesamte Region Cherson mitsamt ihrer ganzen Bevölkerung."
Sergej Schoigu erst einmal aus dem Schussfeld
Verteidigungsminister Sergej Schoigu sei aber in Folge der Explosion nicht bedroht, sagt Naki. Der Vorfall habe nichts mit dem Verantwortungsbereich des Verteidigungsministeriums zu tun. Die Rede sei schließlich nicht von Raketen oder Panzern, die die Brücke angegriffen hätten. "Die Rede ist von einer Spezialoperation. Und für Spezialoperationen existieren schließlich die russischen Geheimdienste", gab er im Gespräch mit dem Team von Alexej Nawalny zu bedenken.
Außerdem werde Putin nun kaum jemanden fallen lassen, der in der Bevölkerung mit der sogenannten "Sonderoperation" in der Ukraine assoziiert werde. "Denn das würde faktisch dem Eingeständnis des eigenen Versagens gleichkommen." Zudem sehe sich Putin mit einem anderen Problem konfrontiert: Er habe nicht genug Leute, die er als Ersatz auf hohe Posten heben könnte. "Das ist das wesentliche Problem des vertikalen Machtsystems Putins. Wenn du deine Leute nach ihrer Loyalität aussuchst, dann bleiben dir keine Profis."