Live-Sendung unterbrochen Protest im russischen Staats-TV: Die Frau, die es wagt, gegen Putin den Mund aufzumachen

Marina Owsjannikowa wird für ihren mutigen Protest gefeiert. In Russland könnten ihr nun bis zu 15 Jahre Haft drohen. 
"Akt unfassbaren Mutes": Marina Owsjannikowa wird für ihren mutigen Protest gefeiert. In Russland könnten ihr nun bis zu 15 Jahre Haft drohen. 
© Screenshot Facebook
Sechs Sekunden machten Marina Owsjannikowa weltbekannt. Die TV-Redakteurin platzte in die wichtigste Nachrichtensendung Russlands mit einem Protest-Plakat gegen den Ukraine-Krieg und prangerte die Lügen der Propaganda an. Das wissen wir über sie.

Über Nacht wurde Marina Owsjannikowa zum Gesicht des russischen Protests gegen die Invasion in der Ukraine und den russichen Machthaber Wladimir Putin. Um kurz nach 21 Uhr Ortszeit stürmte die Redakteurin des Staatssenders Perwyj Kanal ins Studio der Nachrichtensendung "Wremja" (Zeit) und hielt hinter dem Rücken der Sprecherin ein Plakat in die Höhe. "Nein zum Krieg. Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen", lautete ihre eindringliche Botschaft.

Sechs Sekunden dauerte es, bevor die Live-Übertragung abgebrochen wurde. Aber diese sechs Sekunden haben gereicht, um ein eindrückliches Statement zu setzen, das um die Welt geht. Es ist ein Protest mit großer Symbolkraft: Ein Mitglied des Systems läuft aus dem Ruder. Ein Rädchen der Maschinerie sagt sich von Putin los. Der größte und wichtigste Staatssender Russlands, der 98 Prozent der Bevölkerung erreicht, strahlt für ein paar Augenblicke ein Wort aus, das von höchster Stelle verboten worden ist: Krieg.

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Für dieses Wort wird Owsjannikowa teuer bezahlen müssen. Die Untersuchungskommission der Russischen Föderation hat Ermittlungen gegen die zweifache Mutter aufgenommen. Ihr wird vorgeworfen, "wissentlich falsche Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation" verbreitet zu haben. Nach dem Gesetz, das am 4. März verabschiedet worden ist, drohen Owsjannikowa nun bis zu 15 Jahre Haft. Die Journalistin wurde noch an Ort und Stelle festgenommen. Ihre Anwälte können sie seitdem nach Angaben der Menschenrechtsorganisation OWD-Info nicht erreichen. 

In Russland drohen ihr bis zu 15 Jahre Haft 

Owsjannikowa ist nur eine von tausenden Mitarbeitern der Staatsmedien Russlands. Nur wenige von ihnen sind überzeugte Propagandisten. Nur wenige von ihnen bekommen solch exorbitante Gehälter, dass sie sich gleich drei Villen in Italien zulegen können, wie etwa Wladimir Solowjew, der der Kreml-Propaganda wie kein anderer ein Gesicht gibt. Der Mehrheit bleibt nichts anderes übrig, als die Kreml-Lügen zu verbreiten, um ihre eigene Existenz nicht zu gefährden. Mit ihrer Protest-Aktion hat Owsjannikowa genau dies bewusst getan – und nicht nur ihre eigene Existenz, auch die ihrer Familie. Es gehört zu den üblichen Praktiken der Einschüchterungspolitik des Kremls: Nicht nur die unliebsamen Personen werden mundtot gemacht, auch ihre Angehörigen verlieren oft ihre Arbeitsplätze oder werden polizeilich verfolgt.

Was über Owsjannikowa bekannt ist 

Am Tag vor ihrem mutigen Protest änderte Owsjannikowa bei Facebook ihr Profilbild. Darauf trägt sie eine Kette in den Farben der ukrainischen und russischen Nationalflagge. Eine Friedenstaube ist als Icon im Vordergrund zu sehen.

Das Profilbild, das Marina Owsjannikowa am Tag vor ihrer Protest-Aktion bei Facebook hochgeladen hat 
Das Profilbild, das Marina Owsjannikowa am Tag vor ihrer Protest-Aktion bei Facebook hochgeladen hat 
© Screenshot Facebook

Ihre Karriere begann sie einst als Moderatorin bei der staatlichen Fernseh- und Rundfunkanstalt Kuban in Krasnodar. Zuvor studierte sie an der Fakultät für Journalismus an der Staatlichen Technischen Universität von Kuban und an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation. Die Journalistin Bozhena Rynska berichtete in ihrem Telegram-Kanal, dass Owsjannikowa Anfang der 2000er Jahre regelrecht ein "lokaler Star" gewesen sei. "Marina studierte Journalismus an der Kuban-Universität im selben Studiengang wie Simonjan", will sich Rynska heute erinnern und brachte damit die berüchtigte Chefredakteurin des Propagandasensers RT Margarita Simonjan ins Spiel.

Simonjan antwortete umgehend. Sie habe zwar mit Owsjannikowa nicht zusammen in einem Jahrgang studiert, aber erinnere sich gut an sie. "Sie war nicht meine Klassenkameradin, aber sie war die fast allmächtige Favoritin des fast allmächtigen Direktors der staatlichen Fernseh- und Rundfunkgesellschaft Kuban", giftet die RT-Chefin und deutet damit eine sexuelle Verbindung zwischen Owsjannikowa und ihrem ehemaligen Vorgesetzten an. 

Der ehemalige Direktor der Sendeanstalt, Wladimir Runow, streitet jede Verbindung dieser Art ab. "Sie war eine gewöhnliche Korrespondentin, ziemlich schlagfertig. Sie konnte viel erreichen. Sie hat recht erfolgreich für uns im Fernsehen gearbeitet, so eine schlagfertige junge Dame, aber dann ist sie irgendwohin verschwunden. Wo sie jetzt ist, keine Ahnung"; sagte er dem lokalen Online-Portal "93"

2002 soll Owsjannikowa schließlich nach Moskau gewechselt haben, erzählte eine ehemalige Kollegin. "Ich erinnere mich an Marina als ein gutes, aufrichtiges Mädchen. Karriere baut aber jeder, wie er will", sagte sie anonym gegenüber "93". 

Die Verbindung zu RT 

Nach ihrem Wechsel soll sie als Produzentin beim Staatssender Rossija 1 gearbeitet haben, bevor sie schließlich zum Perwyj Kanal als Redakteurin anfing. 

Auch wenn Owsjannikowa nicht zusammen mit Simonjan studierte, eine Verbindung zu RT gibt es dennoch. Ihr Mann arbeitet als Regisseur bei dem Propaganda-Sender. Die RT-Chefredakteurin nahm ihn in Schutz: Das Paar sei längst geschieden und führten ein "sehr unterschiedliches Leben". Solch eine unglückliche Verbindung könne jeder Redaktion passieren, behauptete Simonjan in dem Versuch sich von dem Vorfall zu distanzieren. 

Während die russischen Propagandisten sich beeilen zu der "Nestbeschmutzerin" auf Distanz zu gehen, um nicht dasselbe Schicksal zu erleiden, das ihr jetzt droht, wird Owsjannikowa von anderen gefeiert. "Das ist ein Akt unfassbaren Mutes", twitterte sogar der demokratische US-Senator Bernie Sanders. 

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