Katastrophale Zustände Keller voller Leichen, Kliniken kurz vorm Kollaps, verzweifelte Ärzte – der Corona-Horror in Russland

Moskau, Russland: Das Krankenhaus Nr. 15 ist nur noch Corona-Patienten vorbehalten.
Moskau, Russland: Das Krankenhaus Nr. 15 ist nur noch Corona-Patienten vorbehalten. Im Gegensatz zu den Regionen ist die Lage in der Hauptstadt verhältnismäßig besser. Hier haben die Ärzte zum Teil noch Schutzkleidung. 
© Valeriy Melnikov / Picture Alliance
Die Kliniken sind hoffnungslos überfüllt. Krankenwagen rücken nicht mehr aus. Antibiotika und Sauerstoff werden zur Mangelware. Und in den Leichenhallen stapeln sich die Toten. Die Corona-Lage in Russland ist außer Kontrolle. Und der Kreml? Erzählt weiter Märchen. 

Schwarze Leichensäcke wohin das Auge blickt. Auf dem Boden, auf den Tischen, darunter und dazwischen. In hüfthohen Stapeln türmen sie sich in den Ecken. Die alten Fliesen sind unter den schwarzen Bergen kaum noch auszumachen. Und da: Zwei Füße blitzen aus dem Gewühl hervor. Für einen Unglückseligen war nicht einmal ein Leichensack mehr übrig. Sein lebloser Körper liegt in eine Decke gehüllt – zwischen den unzähligen Leichen anderer. 

Was nach einem Ausschnitt aus einem apokalyptischen Hollywood-Streifen klingt, ist in Russland grausame Realität. Es ist die Leichenhalle der Großstadt Nowokusnezk in der Region Kusbass, in der diese Szene aufgenommen wurde. Es sind tote Menschen, die sich da in namenlosen Haufen stapeln. Es sind Corona-Tote. 

Behörden absolut ratlos

Auch wenn die Regierung in Moskau am liebsten selbst ein verdeckendes Leichentuch über die Situation in Nowokusnezk und dem gesamten Land ausbreiten würde, vertuschen lässt sie sich nicht mehr. Zu viele erschreckende Berichte kommen an die Öffentlichkeit. Im Keller des Krankenhauses Nr. 12 in Barnaul in der Altai-Region stapeln sich die Leichen im Keller ähnlich wie in Nowokusnezk. Die Behörden sind absolut ratlos.

Das regionale Gesundheitsministerium erklärte, dass die Kapazitäten des Krankenhauses schlichtweg erschöpft seien. "Die signifikant gestiegene Anzahl der täglichen Todesfälle, die Notwendigkeit einer pathologischen Untersuchung in 100 Prozent der Fälle und der Mangel an Pathologen erhöhen die Arbeitsbelastung für jeden Arzt signifikant und bedingen die entstandene Warteliste in der Autopsie", erklärte die Behörde. Die Situation werde zudem dadurch verschlimmert, dass nicht alle Angehörigen die Leichen der Verstorbenen rechtzeitig aus dem Krankenhaus abholen.

Die gleiche Begründung führte auch das Gesundheitsministerium der Region Kusbass an. "Der Hauptgrund für die Anhäufung von Leichen ist der Umstand, dass die Angehörigen sich in Isolation befinden oder selbst krank sind, und deswegen die Leichen nicht vor Ablauf der Quarantänezeit oder bis zu ihrer Genesung abholen können", zitiert die Nachrichtenagentur Tass die Behörde. 

Kurz vor dem Kollaps 

Die zweite Welle des Coronavirus hat das russische Gesundheitssystem an den Rand des Kollaps gebracht. Überall wird die katastrophale Lage sichtbar. In Lipezk werden die Patienten des Krankenhauses für Infektionskrankheiten aufgefordert, ihre eigenen Klappbetten mitzubringen, weil keine Plätze mehr frei sind. Das berichten lokale Medien und Politiker. 

In Tomsk müssen die Patienten stundenlang auf Stühlen ausharren, bis sie untersucht werden. "Meine Mutter ist 70 Jahre alt", erzählte eine aufgebrachte Frau dem lokalen Fernsehsender TV-2. "Eine Computertomographie zeigte bei ihr eine bilaterale Pneumonie und eine pulmonale Hypertonie zweiten Grades. Sie hatte seit zweieinhalb Wochen Fieber von 39 Grad. Sie war völlig erschöpft. Trotzdem saß sie 20 Stunden lang im Korridor und wartete auf medizinische Hilfe."

Aufnahmen zeigen überfüllte Flure. Wer kein Bett bekommen hat, sitzt eben. Manche Patienten legen sich auf den blanken Boden. Eine Patientin dokumentierte das Geschehen in dem Covid-Krankenhaus Berdsk.

"Es gibt keine Plätze auf den Stationen. Menschen liegen in den Korridoren. Es gibt auch keine freien Betten mehr. Die Patienten werden auf Stühle gesetzt. Es sind noch sage und schreibe zwei Stühle leer. Und so sieht der gesamte Flur aus [...]. Das ist unsere Realität", kommentiert die Frau hinter der Kamera ihre Aufnahmen.

Kliniken in Russland lehnen Aufnahme von Corona-Patienten ab 

Anderorts werden an Covid-19 erkrankte Menschen von den Krankenhäusern gar nicht mehr angenommen. Für einen Skandal sorgte etwa ein Fall aus Omsk. Dort brachten zwei Krankenwagen ihre Patienten zum Gebäude des regionalen Gesundheitsministeriums, um gegen den Mangel an Betten in den Krankenhäusern zu demonstrieren. Alle Kliniken hatten zuvor die Aufnahme abgelehnt.

Einer der Wagen war vor der verzweifelten Aktion zehn Stunden lang durch die Stadt gefahren – mit einer 70-jährigen Patientin an Bord, bei der eine Computertomographie Schäden an 81 Prozent der Lunge gezeigt hatte. Schließlich hätten sie sich entschlossen, zum Gesundheitsministerium zu fahren, um die Ministerin Irina Soldatowa zu fragen, wohin sie die Patientin bringen sollen, erklärte das Einsatzteam dem Nachrichtenportal "NGS Omsk". "Wir konnten nirgendwo anders eine Antwort bekommen und beschlossen hier zu fragen. Vielleicht weiß man hier Rat. Die Patientin muss hundertprozentig hospitalisiert werden. Ich kann sie weder aus menschlichen noch medizinischen Gründen wieder nach Hause bringen", erklärte der Arzt des Krankenwagenteams.

Wenige Tage nach dem Vorfall musste die Ministerin ihren Posten räumen. Einen Ersatz hat man schon gefunden: Alexander Murakhowsky, der Chefarzt des Notfallkrankenhaus Nr. 1 in Omsk. Es war seine Klinik, in die der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny eingeliefert wurde, nachdem er in Folge einer Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok zusammengebrochen war. Eine Beförderung zur Belohnung für treue Dienste vom Kreml – eine gängige Praxis. Die Russen reagieren mit bitterem Humor: "Der Lügner und Chefarzt des Omsker Krankenhauses, Murakhowsky, der Nawalny nicht zur Behandlung ausreisen ließ und der ganzen Welt völligen Unsinn erzählte, ist jetzt Gesundheitsminister. Nun, wenn er Nawalny 'gerettet' hat, wird er auch das Gesundheitssystem in Omsk retten", kommentierte etwa eine Frau sarkastisch auf Twitter

Krankenwagen rücken nicht mehr bei Corona-Verdacht aus 

In anderen Regionen rücken die Krankenwagen gar nicht mehr aus. Eine Bewohnerin der Stadt Rubzovsk berichtete dem stern, ihr sei bei ihrem Anruf mitgeteilt worden, dass man schlichtweg keine verfügbaren Einsatzkräfte habe. "Wenn ich darauf bestünde, würde eventuell ein Krankenwagen in drei Tagen kommen", erzählte sie. "Ich weiß, dass ich mich mit dem Coronavirus infiziert habe. Nun versuche ich mich zu Hause zu isolieren, so gut es eben geht." 

Die Regionalregierungen versuchen mit zweifelhaften Erlassen die Flut der Kranken in die Krankenhäuser zu stoppen. Das Gesundheitsministerium der Region Tscheljabinsk ordnete etwa an, dass Krankenwagen nicht mehr zu Patienten ausrücken sollen, die über Brustschmerzen, Vergiftungen, Atembeschwerden, Tachykardie, Zittern, Erbrechen und Verdacht auf Covid-19 klagen. Ähnliche Anweisungen sind auch in anderen Regionen ergangen. 

Unterdessen spitzt sich die Lage weiter zu. "Wir haben nicht genügend Plätze für Patienten. Wir haben keine Medikamente. Unsere Leichenhallen sind überfüllt. Wir haben nicht einmal mehr elementare Antibiotika. Wir haben nicht genug Mitarbeiter", so fasste eine Ärztin aus Uljanowsk die Situation in ihrem Krankenhaus in einem Interview mit Mitarbeitern des Stabs von Alexej Nawalny zusammen. "Viele kündigen, weil die Gehälter nicht bezahlt werden und Arbeitsbedingungen unerträglich sind." Auf 100 Patienten komme vielleicht eine Krankenschwester. Jede Stunde gebe es neue Tote. "Die Sanitäter sind mit fast nichts anderem mehr beschäftigt, als die Leichen wegzuschaffen."

Überall im Land quittieren die Ärzte ihren Dienst. Manche aus Protest, manche aus Verzweiflung. In Rostow am Don kündigte Anfang dieser Woche ein Anästhesist, weil seine Patienten vor seinen Augen starben, weil er schlicht keinen Sauerstoff mehr für sie hatte. Kein Einzelfall. 

Zudem klagen die Ärzte über fehlende Schutzausrüstung. "Während der ersten Welle waren einige der Ärzte schwer erkrankt. Unser medizinisches Personal verlor Angehörige. Zu Beginn der zweiten Welle starb mein Kollege. Auch vertraute Kollegen in anderen Krankenhäusern sind verstorben", berichtete ein Arzt aus Sankt Petersburg dem unabhängigen Nachrichtenmagazin "Meduza". Auch er sah keinen anderen Ausweg mehr, als die Kündigung einzureichen.

Der Kreml erzählt weiter Märchen 

Und was macht der Kreml angesichts dieser dramatischen Entwicklungen? Er verordnet den Medizinern einen Maulkorb. Jedes öffentliche Statement müsse mit dem zuständigen Ministerium abgesprochen werden, so die Verordnung.

Unterdessen erzählen die Propagandisten im Staatsfernsehen, wie hervorragend das russische Gesundheitssystem die Pandemie meistere. Waldimir Putin selbst erklärte aus seiner Selbstisolation in seiner Residenz bei Moskau, die nur noch "der Bunker" genannt wird, wie überlegen die russische Medizin wäre. 

Und da wären natürlich noch die russischen Impfstoffe. Bereits zwei wurden zugelassen. Doch Putin denkt bislang nicht daran, sich selbst impfen zu lassen. Er weiß wohl, warum. Erst am Mittwoch ist bekannt geworden, dass in der Altai-Region drei Ärzte, die sich mit dem Sputnik-V-Impfstoff gegen eine Covid-19-Infektion impfen lassen mussten, gestorben sind – an Corona. 

ivi