Rätselraten in Russland Schwere Erkrankung oder kaltes Polit-Kalkül? Was die Gerüchte um Wladimir Putins Gesundheitszustand bedeuten

Rätselraten in Russland : Schwere Erkrankung oder kaltes Polit-Kalkül? Was die Gerüchte um Wladimir Putins Gesundheitszustand bedeuten
© Aleksey Nikolskyi / Picture Alliance
Seltsame Auftritte, zitternde Hände, selbstauferlegte Isolation – der Gesundheitszustand von Wladimir Putin sorgt für Spekulationen. Der Kreml-Chef gießt dabei selbst Öl ins Feuer: Mit einem Gesetz, das ihn unantastbar macht. 

Als er aus dem Flugzeug steigt, läuft er mit leichten, federnden Schritten die Gangway hinunter. Die rechte Hand schwebt elegant über dem Geländer. In einem sportlichen Blouson trotzt er dem kalten Wind. Am Ende der Treppe schüttelt er den Männern, die dort auf ihn warten, schwungvoll die Hände. Ein Mann voller Kraft und Tatendrang. So sieht sich Wladimir Putin am liebsten. So will er von seinem Volk gesehen werden.

Doch der so minutiös inszenierte Auftritt in der geheimnisumwitterten Stadt Sarow am vergangenen Samstag verfehlte die erhoffte Wirkung. "Endlich ist Putin aus seinem Bunker ausgebrochen", witzeln die Russen – inzwischen ein Running Gag. So manch einer weigert sich gar zu glauben, endlich wieder den Staatschef zu Gesicht bekommen zu haben. "Das ist doch ein Ersatz-Putin, bei dem sich noch alle Körperteile bewegen", "Der Feiertags-Putin ist wieder rausgekramt worden", "Doppelgänger werden ja auch nicht krank", scherzen sie in den sozialen Netzwerken. 

Gerüchte, Putin lasse sich bei offiziellen Anlässen durch Doppelgänger vertreten, grassieren in Russland schon seit Jahren. Verschwörungstheoretiker behaupten gar, im Kreml sitze längst eine Kopie des Präsidenten und das Original sei womöglich schon tot. Doch in den vergangenen Wochen ist eine neue Welle an Spekulationen um den Gesundheitszustand des Staatschefs entbrannt. Befeuert werden sie durch merkwürdige Auftritte Putins, seine selbstauferlegte Isolation und ein neues Gesetz, das für seine Zukunft außerhalb der Kremlmauern vorsorgt.

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Merkwürdige Auftritte beleben alte Gerüchte 

Bereits im Juli fing der Gerüchtetopf an zu köcheln. Damals tauchte Putin mit Augenringen bei einer Militärparade auf. Wenige Wochen später strahlte das Staatsfernsehen ein Interview aus, bei dem sich der Kreml-Chef faktisch an seinen Stuhl klammerte. Im September sorgte ein Treffen mit dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko für Aufsehen, als Putin durch ungewöhnliches Verhalten auffiel: zappelnde Füße, unruhige Hände, unsteter Blick – für Beobachter ein Zeichen für eine zunehmend kritische mentale Verfassung.

Es folgte eine Reihe verstörender Auftritte. Mal zitterten sichtlich Putins Hände. Mal knickte sein Fuß merkwürdig um. Bei einem Treffen mit dem Chef der russischen staatlichen Ölgesellschaft Rosneft versteckte er durchgehend seine rechte Hand unter dem Tisch und benutzte stattdessen seine Linke, obwohl er Rechtshänder ist. Grund genug, dass alte Gerüchte wieder aufloderten. Es heißt, Putin leide an Parkinson.

Wladimir Putin bei seinem Treffen mit Rosneft-Chef Igor Sechin
Wladimir Putin bei seinem Treffen mit Rosneft-Chef Igor Sechin, bei dem er konstant seine rechte Hand unter dem Tisch versteckte und stattdessen die Linke benutzte 
© Aleksey Nikolskyi / Picture Alliance

Seit 2015 gibt es diese Spekulationen. Damals stellte eine Gruppe von Forschern bei Putin den sogenannten "Schützen-Gang" fest. Der Kreml-Chef schwinge beim Gehen seinen rechten Arm weniger als den linken, was normalerweise auf ein frühes Stadium einer neurologischen Erkrankung hinweisen könne, behaupteten die Wissenschaftler, die sich auf die Erforschung von Parkinson spezialisiert haben.

Das Magazin "Times" veröffentlichte damals den Bericht, in dem aber gleichzeitig diese Diagnose relativiert wurde. Viel mehr deute alles daraufhin, dass die besondere Gangart Putins auf seine KGB-Vergangenheit zurückzuführen sei. 

Der Mythos einer Parkinson-Epidemie im Kreml

Wie alte Trainingshandbücher des KGB nahelegen, wurden die Agenten angewiesen, ihre Waffe während einer Kampfhandlung in der rechten Hand an der Brust zu halten, während sie sich seitwärts nach vorne bewegen, die linke Hand leicht in die Bewegungsrichtung gedreht. 

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Nachdem die Neurowissenschaftler auch Videoaufnahmen anderer russischer Politiker ausgewertet hatten, stellten sie fest, dass auch solche Männer wie Dmitri Medwedew, der frühere Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow und der Leiter der Präsidialverwaltung Sergej Iwanow den "Schützen-Gang" an den Tag legen. "Zuerst kommt die verlockende Idee, dass sie alle an Parkinson leiden. Dass es im Kreml eine Parkinson-Epidemie gibt", sagte damals Basu Bloe, ein Spezialist vom Parkinson Disease Research Center in Nijmegen in den Niederlanden.

Doch wahrscheinlicher sei es, dass ihre militärische Vergangenheit dafür verantwortlich ist. Iwanow diente früher – wie Putin selbst – beim KGB. Und Serdjukow war einst Unteroffizier in der sowjetischen Armee. Den Gang von Medwedew erkläre sich höchstwahrscheinlich mit seinem Wunsch, "wie sein Chef zu sein", so der Experte. 

Auch wenn Putins "Schützen-Gang" wohl das Ergebnis eines speziellen Trainings ist, wollten die Gerüchte um eine Parkinson-Erkrankung seitdem nie aus der Welt weichen. Nun werden sie wieder aufgegriffen, vor allem von dem Historiker und früheren Professor der Moskauer Diplomatenkaderschmiede MGIMO, Walerij Solowej. 

Vom viel zitierten Experten zum Verschwörungstheoretiker

"Wladimir Putin will im Januar seine Pläne für den Macht-Transit bekannt geben. Es geht um einen umfangreichen Kaderwechsel", behauptete er in einem Interview mit dem unabhängigen Sender "Echo Moskwy". Der Grund sei eine schwere Krankheit. Dabei beruft sich Solowej auf den Telegram-Kanal "General SWR", der angeblich von Ex-Geheimdienstlern geführt wird. Dort findet sich ein Eintrag, der besagt, dass Putin mit Medikamenten gegen Parkinson behandelt werde. Er bekomme Antidepressiva und unterziehe sich einer Krebs-Therapie. Alles auf einmal. 

Solowej gibt sich gerne als Insider. Lange Zeit wurde er tatsächlich gerne als Experte herangezogen. Doch unter unabhängigen Journalisten in Russland gilt er zunehmend als Wichtigtuer und Verschwörungstheoretiker. So prognostiziert er bereits seit Jahren einen unmittelbar bevorstehenden Rücktritt Putins. Auch mit anderen Prognosen lag er daneben. Im Frühjahr prophezeite er etwa einen baldigen Einmarsch Moskaus im Baltikum. Oder er behauptete, er sei Mitglied einer Geheimorganisation, deren Einfluss weit über den der russischen Staatsorgane hinausgehe. Welche Organisation das sein soll, verriet er aber nicht. 

Seine Behauptungen fallen jedoch auf fruchtbaren Boden, vor allem im Ausland. Sowohl die britischen Boulevard-Zeitungen "The Sun" und "Daily Mail" als auch die US-Zeitung "New York Post" griffen die Gerüchte auf, sodass Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sich genötigt sah, ein Dementi abzugeben. "Das ist völliger Unsinn. Dem Präsidenten geht es gut. Seine Gesundheit ist ausgezeichnet", erklärte er.

Putin bietet selbst perfekte Vorlage für Spekulationen 

Doch es ist Putin selbst, der die Gerüchte weiter anheizt. Zum einen durch seine Selbstisolation. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie hat er sich praktisch in seiner Residenz in Nowo-Ogarjowo bei Moskau verbarrikadiert. Nur zu selten Anlässen lässt er sich in der Öffentlichkeit blicken. Offiziell dienen die Maßnahmen dem Schutz gegen das Coronavirus. 

Um Putin vor einer Infektion zu schützen, hat der Kreml zahlreiche Sicherheitsvorkehrungen eingeführt. Alle die mit dem Präsidenten in Berührung kommen, müssen vorher mindestens zwei Wochen in Quarantäne. Außerdem wurde im Kreml und in der Residenz Putins jeweils ein Desinfektionstunnel eingerichtet. Alle, die dem Kreml-Chef einen Besuch abstattet wollen, müssen zunächst durch die Sicherheitsschleuse hindurch. Dabei werden die Besucher von allen Seiten mit Desinfektionsspray besprüht.

Mindestens bis zum Februar will Putin noch in der Selbstisolation bleiben. Vielen Russen muten diese Maßnahmen seltsam an, zumal Putin nicht müde wird, Loblieder auf den russischen Impfstoff zu singen, und das Virus in Russland längst für besiegt erklärt hat. Sich selbst impfen will der Kreml-Chef unterdessen immer noch nicht. Obwohl bereits zwei russische Impfstoffe zugelassen worden sind.

Die Selbstisolation bietet für alle Spekulationen den perfekten Nährboden. Wer weiß schließlich, was da hinter den Mauern von Nowo-Ogarjowo geschieht – oder was da versteckt wird?

Putin sorgt für die Zukunft vor

Vor diesem Hintergrund bringt Putin auch noch die Frage nach seiner Zukunft ins Spiel. Er ließ in der Duma ein Gesetz einbringen, das ihm lebenslange Immunität sicherstellt, sowohl für seine Taten vor seiner Präsidentschaft als auch danach. In einer ersten Lesung ist das Gesetz bereits bestätigt worden. Für Putin, und auch für Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew, wird das ein Freifahrtschein auf Lebenszeit sein. Festnahmen, Verhöre von ehemaligen Staatsoberhäuptern oder Durchsuchungen ihrer Wohnungen werden damit unmöglich gemacht. Das Gesetz sieht zudem auch für die Familien der Ex-Präsidenten Schutz vor Strafverfolgung vor.

"Der Gesetzesentwurf legt Garantien für die Unverletzlichkeit des Ex-Präsidenten über seine Amtszeit hinaus", erklärte Senator Andrej Klischas die Idee. Nur bei schweren Verbrechen wie Hochverrat haben die beiden Kammern der Föderationsversammlung künftig das Recht, dem Ex-Präsidenten mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit die Immunität zu entziehen. 

Mit einem weiteren Gesetz sichert sich Putin zudem einen Sitz auf Lebenszeit im Föderationsrat, der zweiten Kammer neben der Duma. Auch in dieser Position ist er vor Strafverfolgung geschützt.

Alles politisches Kalkül? 

So viel Vorsorge lässt eine Frage umso dringlicher erscheinen: Bereitet Putin seinen Abgang vor? Die Gerüchte um seinen Gesundheitszustand erscheinen vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht. Da füllt schon mal ein kleiner Hustenanfall während einer Videokonferenz gleich die Titelblätter. 

Doch solche Spekulationen sind nichts neues. In russischen Staatsmedien kommt das Thema in zyklischen Schüben auf die Tagesordnung. Dahinter könnte eine Strategie des Kremls stecken, vermuten Beobachter. Denn generell gilt das Prinzip: Der Kreml ist eine Blackbox, aus der nichts nach außen dringt – außer es ist gewollt. "Der Chef will wissen, wer den Gerüchten Glauben schenkt und sich nach anderen Möglichkeiten umsieht", fasste Julia Taratuta, Kommentatorin des unabhängigen Senders "Doschd", die Überlegungen hinter dieser Theorie zusammen. Um zu sehen, wessen "Augen auf der Suche nach einem Nachfolger von einer Ecke in die nächste zu huschen beginnen", wie Putin es einst selbst ausgedrückt hat. In der Vergangenheit ein beliebter Trick unter Monarchen, um die Treue ihrer Untertanen zu prüfen.

Und auf die Treue seiner Mitstreiter könnte Putin in den nächsten Monaten angewiesen sein. Die Stimmung in Russland kippt zunehmend zu seinen Ungunsten. Einer aktuellen Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Levada zufolge wollen nach Ablauf der aktuellen Amtszeit nur noch 27 Prozent der Bevölkerung Putin weiter im Kreml sehen. Ein Blick zum Nachbarstaat Belarus führt dem Kreml-Chef deutlich vor Augen, was ihn erwartet, sollte er noch mehr an Rückhalt verlieren.

Das Schicksal, das nun seinem politischen Ziehvater Alexander Lukaschenko droht, will Putin um jeden Preis verhindern. Alle Gesetzesvorlagen, die in den vergangenen Monaten in der Duma eingebracht wurden, dienen einem Zweck: der Konsolidierung der Macht in Moskau. Den Regionen und ihren Gouverneuren sollen zunehmend Zuständigkeiten entzogen werden. Der russische Föderalismus ist Putin zunehmend ein Dorn im Auge. Seine neue Verfassung legt ihm zwar die Mittel in die Hand, diesen nach und nach auszuhebeln. Doch auf eines kann Putin dabei nicht verzichten: den Rückhalt der Eliten. Umso mehr, sollte es mit seiner Gesundheit tatsächlich nicht zum Besten stehen.

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