Am Donnerstag erreichte die Corona-Pandemie in Russland ihren vorläufigen Zenit. 28.145 neue Fälle innerhalb von 24 Stunden wurden vom eigens eingerichteten Hauptquartier zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 gemeldet. Insgesamt haben sich in dem Riesenreich 2 .375.546 Menschen mit dem Virus infiziert, 41.607 sind daran gestorben – so zumindest die offiziellen Angaben. Doch wie wenig diesen Zahlen zu trauen ist, verraten die russischen Behörden selbst.
Gleich drei Instanzen sammeln Daten zur Sterblichkeit der russischen Bürger. Da wäre zunächst das Hauptquartier zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19. Jeden Tag gibt diese Einrichtung der russischen Regierung die vermeintlich aktuellen Corona-Fallzahlen heraus. Es sind diese Angaben, die in die weltweiten Statistiken aufgenommen werden, etwa auch von der berühmten Johns-Hopkins-Universität. Hier wird die Corona-Lage kreiert, die sowohl im Inland als auch im Ausland wahrgenommen werden soll.
Drei Statistiken, drei Ergebnisse
Regionale und föderale Regierungsvertreter bedienen sich jedoch anderer Statistiken, die von dem sogenannten Informationszentrum zur Überwachung der Coronavirus-Situation (NMRC) zusammengetragen werden. Diese speisen sich vor allem aus Daten, die von den Verantwortlichen in den Krankenhäusern jeden Morgen übermittelt werden: unter anderem die Anzahl der aufgenommenen Patienten mit Verdacht auf Covid-19, die Anzahl der Entlassenen und die Anzahl der Todesfälle.
Und schließlich gibt es da noch das Russische Amt für Statistik (Rosstat), das die monatliche Mortalität im gesamten Land (vor allem zur Übersterblichkeit im Vergleich zum Vorjahr) sowie die Mortalität durch das Coronavirus registriert.
Das Verräterische: Die Statistiken dieser drei Instanzen gehen dramatisch auseinander.
Immense Differenzen der Statistiken
Nach internen Daten des NMRC starben allein bis zum 22. November in Russland mindestens 74.866 Menschen am Coronavirus. Das berichtet die investigative Zeitung "Mediazona" unter Berufung auf zahlreiche Dokumente, die von einem Informanten innerhalb der Behörde zugespielt worden sind. Dabei gingen in diese Statistik nur Tote ein, die unmittelbar auf Corona-Stationen in Krankenhäusern aus dem Leben geschieden sind. All jene, die etwa in den eigenen vier Wänden oder aber auch in anderen Klink-Abteilungen gestorben sind, werden hier nicht berücksichtigt.
Und trotzdem: Auch unter diesen Bedingungen ist diese Zahl mehr als doppelt so hoch wie die offiziell herausgegebene, die zum 22. November bei 36.516 Toten lag.
Noch erschreckender wird das Bild, wenn man die Daten von Rosstat betrachtet. Im Zeitraum zwischen April und September verzeichnete die Behörde eine Zunahme der Sterblichkeit um 18 Prozent. In diesen sechs Monaten starben 120.000 Menschen mehr als im Durchschnitt der letzten fünf Jahre, in denen die Sterblichkeitsrate kontinuierlich gesunken war.
Die Zahl der Corona-Toten gibt das Amt mit rund 55.600 an. In den offiziellen Statistiken des Hauptquartiers zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 wurden für diesen Zeitraum jedoch nur 20.698 Todesfälle genannt. Und in den Daten NMRC sind rund 41.300 Fälle von Patienten verzeichnet, die in Coronavirus-Krankenhäusern verstorben sind.

Dabei könnten selbst die höheren Fallzahlen von Rosstat noch untertrieben sein. Zwar ist die extrem gestiegene Sterblichkeit wohl nicht allein auf das Coronavirus zurückzuführen. Dennoch könnte der prozentuelle Anteil höher liegen. "Die Notaufnahmen sind voll. Da hat aber jemand einen Herzinfarkt, oder etwas anderes. Geplante Operationen werden verschoben", gibt der Demograf Aleksej Rakscha in einem Gespräch mit "Mediazona" zu bedenken. Eine Überlastung des Gesundheitssystems könnte also auch zu vermehrten Todesfällen führen. Aber: "Erfahrungswerte aus anderen Industrieländern zeigen, dass 55 bis 110 Prozent der Übersterblichkeit auf Covid-19 zurückzuführen sind. Im Durchschnitt 80 Prozent", so Rakscha.
Für die Monate Oktober und November rechnen Experten sogar mit noch höherem Wachstum der Sterblichkeitsrate. Allein im Oktober sind nach vorläufigen Informationen mehr als 46.000 Menschen mehr gestorben als im selben Monat vergangenen Jahres, berichtete Rakscha in einem Interview mit dem Stab von Oppositionspolitiker Alexej Nawalny.
Gesundheitsminister will angeben – verplappert sich aber dabei
Dass die Corona-Statistiken nicht stimmen, verraten auch Behörden und Regierungsvertreter immer wieder unfreiwillig selbst. So verplapperte sich etwa Gesundheitsminister Mikhail Muraschko. 260.000 Plätze gebe es in russischen Krankenhäusern, die ausschließlich Corona-Patienten vorbehalten sind. Diese Zahl nannte er bei einer Sitzung des Koordinierungsrates zur Bekämpfung der Pandemie Anfang November. 82 Prozent der Plätze seien bereits belegt. Und das obwohl nur 25 Prozent der Erkrankten in einem Krankenhaus behandeln werden würden. 75 Prozent der Patienten, bei denen Covid-19 diagnostiziert worden ist, seien in "ambulanter Behandlung", erklärte Muraschko.
So weit, so gut. Aber mit grundlegenden Mathematik-Kenntnissen lässt sich aus diesen Angaben folgendes schließen: Wenn sich 213.000 Corona-Patienten in Krankenhäusern befinden und sie ein Viertel aller nachgewiesenen Fälle darstellen, dann muss es im ganzen Land zu diesem Zeitpunkt mindestens 852.000 aktive Infektionsfälle gegeben haben. Dabei wurde diese Zahl am 9. November offiziell mit 460.991 angegeben.
In Sankt Petersburg entlarvten die Behörden ebenfalls unfreiwillig, dass die Statistiken ihrer Stadt nicht stimmen. Laut Vorschrift dürfen dort Corona-Tote nur in einem Zinksarg und ohne Abschiedszeremonie in speziell ausgewiesenen Gebieten auf zwei Friedhöfen in der Region begraben werden, und das nachdem sie eingeäschert worden sind. Die Zahl solcher Einäscherungen müsste also mit den offiziellen Corona-Todeszahlen übereinstimmen – zumindest in der Theorie. Die Realität sieht jedoch aus.
Vom 14. April bis 27. Oktober sind in Sankt Petersburg nach Daten, die im "Aufzeichnungsregister über Einäscherungen der Leichen der Verstorbenen, die mit dem neuen Coronavirus infiziert waren" enthalten sind, 5868 Corona-Tote eingeäschert worden, deckte die regierungskritische Zeitung "Fontanka" auf. Im gleichen Zeitraum sind in der Metropole aber nur 3.674 Todesfälle gemeldet worden – eine Differenz von 2194 Fällen.
Ein Land kurz vor dem Kollaps
Dass die Lage im Land bei weitem dramatischer aussieht, als die Regierung in Moskau die ganze Welt glauben lassen möchte, verrät aber schon ein Blick in die Krankenhäuser des Landes. Welch katastrophalen Zustände dort herrschen, lesen Sie hier: