Die Krim-Brücke ist Wladimir Putins liebstes Vorzeige-Projekt. Der Bau über die Meerenge von Kertsch ist das in Beton gegossene Symbol dessen, was Putin als seinen größten geopolitischen Erfolg betrachtet: die widerrechtliche Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim. Als am frühen Morgen des 8. Oktober eine Explosion die Brücke erschütterte, erbebten auch die Mauern des Kremls.
Was genau zu der Explosion geführt hat, ist bis heute nicht geklärt. Der Kreml beeilte sich zwar seine Version der Geschichte in der Öffentlichkeit zu verbreiten, doch diese Darstellung ist voller Widersprüche und Ungereimtheiten. (Mehr dazu lesen Sie hier.)
Doch unabhängig davon, wie es genau zu der Explosion gekommen ist, war der moralische Schlag, den das Putin-Regime erdulden musste, gravierend. "Die Krim-Brücke symbolisiert, dass die Krim keine Halbinsel ist, sondern Teil des russischen Landes", erklärte der Jurist und Aktivist Mark Fejgin die symbolische Bedeutung der einzigen Landverbindung zwischen der annektierten Krim und dem russischen Festland. In den letzten Jahren wurde die Brücke regelrecht zu einem Nationalheiligtum erhoben.
Wladimir Putin wieder auf seiner Krim-Brücke
Umso mehr beeilte sich das Regime, die symbolträchtige Verbindung wieder in Stand zu setzen. Am vergangenen Montag war es schließlich so weit. Das russischen Staatsfernsehen durfte den Zuschauern die reparierte Brücke präsentieren.
"Diese Nachricht ist wirklich wichtig!", fing am Montagabend Olga Skabejewa ihre Sendung in ihrer gewohnt bellenden Manier an. "Gerade haben wir diese exklusiven Aufnahmen zur Verfügung gestellt bekommen. Seht! Nach dem vom Kiewer Regime verübten Terroranschlag hat Putin persönlich die Krim-Brücke inspiziert!", verkündete die Propagandistin gleich in den ersten Atemzügen der Sendung "60 Minuten" die scheinbar wichtigste Nachricht des Tages.
Der FSB habe ermittelt, dass der ukrainische Geheimdienstchef Kyrylo Budanow den Anschlag organisiert habe, behauptete Skabejewa. Doch man habe die Brücke sogar vorzeitig wieder reparieren können. "Putin ist heute vor Ort angekommen und ist hinter dem Lenker eines Wagens die Brücke entlanggefahren!", verkündete die Show-Masterin so, als ob Putin eine Heldentat vollbracht hat.

Die Botschaft hinter Putins Auftritt
Nach dieser großen Ankündigung bekamen die Zuschauer einen Putin hinter dem Lenker eines Mercedes zu sehen, der gemächlich über die Krim-Brücke tuckerte. Auf dem Beifahrersitz hockte der Vize-Ministerpräsident Russlands Marat Chusnullin und referierte wie ein Schuljunge über die Instandsetzung des Baus.
"Für Putin bedeutet seine Anwesenheit auf der Krim-Brücke das Ende eines Kapitels im Ukraine-Krieg", erläuterte der Politologe Michail Komin im Gespräch mit dem unabhängigen Sender Dozhd. "Er will zeigen, dass alles, was die Ukraine womöglich erreichen wollte, nicht erreicht worden ist."
Fast zur selben Zeit, als Putin die Krim-Brücke inspizierte, fielen auf die Ukraine wieder russische Bomben. "Das war kein Zufall. Das war wichtig, um zu zeigen, dass es da einen Zusammenhang gibt", so der Experte. Der Kreml sage ohnehin ganz offen: Die Bombardierung ziviler kritischer Infrastruktur ist die Rache für die Explosion auf der Krim-Brücke. "Daher war es auch heute wichtig, ein paar Dutzend Raketen auf Energieanlagen abzuschießen", fasste Komin die Logik des Kremls zusammen.
Alle lassen sich an der Front blicken – bis auf Putin
Doch auch wenn die Kreml-Propaganda die Visite Putins auf der Krim-Brücke als Heldentat zu verkaufen versucht, wirft der Auftritt mehr Fragen auf als er "exklusive" Bilder liefert. Seit er die Ukraine überfallen hat, verspricht Putin seinem Volk einen Besuch an der Front, oder zumindest im annektierten Donbass. Erst in der vergangenen Woche, musste sein Sprecher Dmitri Peskow wieder vertrösten: Irgendwann werde Putin den Donbass besuchen, versicherte er. Doch auf dieses irgendwann müssen die Russen offenbar noch lange warten. Die äußerste Grenze, an die Putin sich wagte, ist die Krim-Brücke.
Dabei waren schon alle namhaften Politiker zumindest in der sicheren Nähe der Frontlinie – zuletzt ließ sich der Moskauer Bürgermeister Sobjanin dort in Szene setzen. Nur der Oberbefehlshaber Putin kann sich nicht zu einem Besuch seiner Truppen und der Territorien, die er so stolz für russisch erklärte, durchringen. Oder besser gesagt sein Schutzdienst FSO.
"Wenn das Sicherheitssystem rund um den Präsidenten, ihm erlauben würde, den Donbass zu besuchen, würde er das tun", vermutet der Politologe Komin. "Denn wir wissen, dass Putin eine sehr große Schwäche für Symbolik hat. Aber damit eine solche Visite stattfinden könne, bräuchte man sehr weitreichende Garantien, dass "keine Rakete so weit fliegt und kein Attentäter so weit kommt." Der FSO müsse alle Risiken eliminieren, die Putin drohen könnten. "Um Sobjanin wäre es hingehen nicht so schade."
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Sicherheit vor Image
Solange das so ist, bleibt der Propaganda nichts anderes übrig, als eine Fahrt im gepanzerten Mercedes als Heldentat zu verkaufen. Wobei aber gerade dieses Detail, die Absurdität der Propaganda Putins vorführt. Predigt doch der Kreml und all seine Sprachrohre seit Jahren, man werde alle Errungenschaften des Westens durch eigene ersetzen. Als Putin die Krim-Brücke eröffnet hatte, fuhr er deswegen einen Lkw des russischen Herstellers Kamaz.
Nun aber verzichtet Putin auf eine patriotische Show – zu Gunsten seiner Sicherheit. Entgegen der Behauptung von Dmitri Peskow, der Mercedes sei eben gerade zu Hand gewesen, war die Wahl des Wagens keineswegs ein Zufall. Sie war ein Kompromiss. "Wenn man das ganze Prozedere der Präsidialverwaltung überlassen hätte, wäre das Ganze bei weitem patriotischer gestaltet worden", ist sich Komin sicher. So aber zeige der Auftritt nichts als Geringschätzung Putins gegenüber seinen theoretischen Wählern.
Vorbei sind die Zeiten, in denen Putin seinem Volk ein Ideal verkaufen wollte. Image-Fragen kümmern ihn nicht mehr. "Das einzige, was ihn momentan kümmert, ist wohl, wann er die generelle Mobilmachung verkünden wird", so Komin.