Wladimir Putin hat sich bereits vor geraumer Zeit zum Beschützer "traditioneller russischer Werte" aufgeschwungen. Wie genau diese Werte aussehen, weiß nur niemand zu sagen. Auch Putin nicht – der Geschiedene, der in seinem Palast einen Striptease-Saal einrichten ließ, wo die ehemalige Gymnastin Alina Kabajewa sich um die Pole-Stange wickeln könnte. In den Ohren seiner Anhängerschaft – mehrheitlich Frauen mittleren Alters aus der tiefsten russischen Provinz – dürfte es aber so schön klingen, wenn man von "traditionellen Werten" spricht, dachte sich Putin. Und so wird er nicht müde, von diesen ominösen Werten zu sprechen.
Grundsätzlich und prinzipiell im Wertesystems Putins ist vor allem die Prämisse, dass alle auf dieser Welt sich entweder als Mann oder Frau zu identifizieren haben. Alles andere verstehe er nicht, gab Putin unumwunden zu. "Wollen wir denn, dass es Elternteil Nr. 1, Nr. 2 oder Nr. 3 anstelle von Mama und Papa heißt? Die sind doch völlig verrückt geworden. Wollen wir wirklich, dass Kindern ab der Grundschule Perversionen aufgezwungen werden, die zur Degradierung und zum Aussterben führen?", fragte er ganz entrüstet im vergangenen Semtember – nur ein Beispiel der Ausführungen des Kreml-Chefs zu diesem Thema.
Sergej Lawrow macht es Putin nach
Sergej Lawrow griff nun die Entrüstung seines Meisters auf. Der scheinbar ewige Außenminister Russlands hat wie zufällig auch eine tiefe Abneigung gegen die Vielfalt des Menschen entdeckt. Auf einem internationalen Gipfeltreffen in Moskau wusste er nichts Besseres mit sich anzufangen, als sich über die Diversität in Europa zu echauffieren. Mehr als 80 Geschlechter gebe es dort inzwischen, erklärte Lawrow voller Unverständnis. Die Folgen dieser Entwicklung habe er am eigenen Leib erfahren müssen. Bei einem Gipfeltreffen des OSZE-Außenministerrates in Schweden sei ihm "Unmenschliches" begegnet:
"Entschuldigen Sie mich für die Details, aber ich habe in einer Pause der Sitzung gefragt, wo die Toilette ist. Sie haben mir daraufhin eine Tür mit den Buchstaben WC gezeigt. Ich habe gefragt: 'Ist das für Damen oder für Herren?' Und man antwortete mir: 'Bei uns ist alles gemeinschaftlich.' Ich habe es nicht geglaubt, aber es war wirklich so", erinnerte sich Lawrow immer noch voller Unglauben an den Vorfall. "Sie können sich nicht vorstellen, wie unmenschlich das ist! Einfach unmenschlich", befand der russische Außenminister.
Erstaunliche Worte aus dem Mund eines Mannes, der seit 18 Jahren in der Regierung eines Landes sitzt, in dem 23 Prozent der Bevölkerung ohne einen Anschluss an eine Kanalisation leben müssen. 18,1 Prozent der Russen nutzen Jauchegruben als Toiletten, auf dem Land sind es sogar 48,6 Prozent. Und 4,9 Prozent haben gar keinen Zugang zu irgendeiner Art von Toilette. Das sind offizielle Daten des russischen Statistikamts Rosstat aus dem Jahr 2021, dessen Auswertungen und Statistiken immer zu Gunsten des Kremls ausfallen.
Wie der Zufall es will, demonstrierte eine Abgeordnete aus Nowosibirsk, in welchem Zustand sich die Toilettenkultur der russischen Gesellschaft befindet. Zur gleichen Zeit als Lawrow über die "unmenschlichen" Zustände in Schweden schwadronierte, feierte eine gewisse Swetlana Kawerzina öffentlichkeitswirksam die Reparatur einer Holztoilette für Busfahrer, die auf einen Befehl des Gouverneurs in Stand gesetzt worden ist.
"Die Toilette an der Endhaltestelle ORMZ (Bus 23) wurde repariert", erstattete sie Bericht. "Ohne Türen war es doch ganz schön windig", schrieb die Abgeordnete im russischen sozialen Netzwerk VKontakte. Außerdem sei die Holzkonstruktion gereinigt und mit Desinfektionsmitteln bearbeitet worden, versicherte sie und setzte hinzu: "Unsere Fahrer müssen unter akzeptablen Bedingungen arbeiten." Immerhin hat der Verschlag mit einer Jauchegrube nun eine Holztür. Ob Männer und Frauen hier zusammen auf Toilette gehen müssen, sollte Lawrow nun unbedingt klären. Das wäre ja "unmenschlich."
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