Niederlage für Russland Zurück ins Jahr 1812 – wie die Propaganda den Verlust von Cherson verkauft

In Russland gilt die Faustregel: Je harmloser die Termine von Wladimir Putin, desto ernster die Lage.
In Russland gilt die Faustregel: Je harmloser die Termine von Wladimir Putin, desto ernster die Lage. Als der Rückzug aus Cherson verkündet wurde, verlieh der Kreml-Chef Auszeichnungen an Wissenschaftler. 
© Sergei Bobylev/TASS / Imago Images
Russland bleibt hier für die Ewigkeit: Mit diesen Worten verkündete die Kreml-Propaganda die Besatzung ukrainischer Städte. Dies ist nun keine zwei Monate her und schon muss Russland Cherson aufgeben. Aber wie erklärt man das dem heimischen Publikum? 

"Zweckmäßiges Manöver" und "schwierige Entscheidung" – das sind die neuesten Zugänge im Vokabular der Kreml-Propaganda, um das Unsagbare zu benennen: eine Niederlage der russischen Streitkräfte. Es waren Verteidigungsminister Sergej Schoigu und der Kommandeur der russischen Truppen in der Ukraine, Sergej Surowikin, die den Wettbewerb um die schönste Wortschöpfung für den Neusprech der Propaganda einläuteten. Am Mittwochabend kaperten die beiden die Primetime des Staats-TVs und führten eine mimische Szene auf. 

"Schildern Sie die Lage auf dem Gebiet der militärischen Sonderoperation", forderte Schoigu nuschelnd von dem General. "Genosse Verteidigungsminister, nachdem die Situation von allen Seiten bewertet worden ist, wird vorgeschlagen, eine Verteidigungsposition auf dem linken Ufer des Flusses Dnepr zu beziehen", spulte dieser seinen Part herunter. "Ich verstehe, dass dies eine schwierige Entscheidung ist, aber das Wichtigste ist, wir bewahren das Leben unserer Soldaten und im Gesamten die Handlungsfähigkeit der Truppen-Gruppe", trug Surowikin ohne die leiseste Regung im Gesicht oder Stimme vor. 

"Ich teile Ihre Schlussfolgerungen", gab Schoigu zurück. "Jawohl. Das Manöver der Armee wird in kürzester Zeit vollzogen werden", stieß Surowikin wieder Silbe für Silbe hervor – obwohl der Part von Schoigu kaum einem Befehl ähnelte. Ende des Theaters. 

Propagandisten übernehmen die Bühne 

Nachdem der Vorhang für Schoigu und Surowikin fiel, fing das Spektakel der Propagandisten an. "Der Chef des Verteidigungsministeriums stimmte dem Vorschlag zu, die Streitkräfte umzugruppieren und eine Verteidigungsposition auf dem linken Dnepr-Ufer einzunehmen", verkündete die Sprecherin der Abendnachrichten des Perwyj Kanal, dem wichtigsten Sender Russlands. In seiner Bedeutung und Einschaltquote kommt das Nachrichtenformat der deutschen "Tagesschau" gleich. 

In den Nachrichten des zweitgrößten Senders des Landes Rossija 1 führte man dem Publikum den zehnminütigen Auftritt von Schoigu und Surowikin über die Notwendigkeit einer "Umgruppierung" russischer Streitkräfte vollständig vor.

"Die Situation in der Region um Cherson ist besonders besorgniserregend und verlangt nach schnellen und schwierigen Entscheidungen. Nach einem Transfermanöver russischer Einheiten, um genau zu sein", übernahm auch der Sprecher der Abendnachrichten des Senders NTW das neue offizielle Vokabular. 

Immer wieder dasselbe Mantra 

Auf das Kasperletheater zwischen Schoigu und Surowikin sprangen umgehend die Polit-Talkshows auf, die wichtigsten Einpeitscher der Kreml-Propaganda. Der allgemeine Tenor: Die Entscheidung war sehr schwierig, aber notwendig und wenig überraschend. "Der General der Armee hat die gesamte Verantwortung für die getroffene militärische Entscheidung übernommen", fing Wladimir Solowjow, Putins schärfster Hetzer, ein Loblied auf Surowikin an. "Es ist offensichtlich, dass die Entscheidung sehr schwierig und schmerzlich war."

Dieselben Töne wurden auch im Studio der Sondersendung auf Rossija 1 angeschlagen. "Eine schwierige Entscheidung. Surowikin hat die gesamte Verantwortung übernommen", erklärte Igor Korotschenko, seines Zeichens Chefredakteur der Zeitschrift "Nationale Verteidigung", Mitglied des Öffentlichen Rates des russischen Verteidigungsministeriums und Oberst in Reserve. 

"Das Leben russischer Leute, Zivilisten und Militärs, ist uns wichtiger als PR", verkündete die Moderatorin der Show Olga Skabejewa. Unglücklicherweise hielt die Kamera bei diesen Worten auf einen ihrer Studiogäste, der die Augen so weit verdrehte, dass nur noch das Weiß zu sehen war. 

Russland muss Cherson aufgeben. Im Studio einer Talk-Show verdreht einer der Gäste die Augen
Russland muss Cherson aufgeben. "Das Leben russischer Leute, Zivilisten und Militärs, ist uns wichtiger als PR", bei diesen Worten verdrehte einer der Studiogäste die Augen. manchmal geht die Propaganda selbst bei Propagandisten nicht auf. 
© Screenshot Rossija 1

Als ob Wladimir Putin nicht mehr existiert 

In der folgenden Sendung "Abend mit Wladimir Solowjow" sprang der Politologe Dmitri Ewstafiew dafür für den Kommandeur der russischen Truppen in die Bresche. "Wissen Sie, worin der Wert der Entscheidung des Armeegenerals Surowikin liegt? Und das war eigentlich die erste schwere Episode. Wie schwer, hat man dem General angesehen (...) Ich denke, dass dies die erste unpopuläre schwierige Entscheidung war, die einen Namen, einen Nachnamen, eine Position und einen militärischen Rang hat."

Alle anderen sogenannten Manöver oder "Gesten des guten Willens", wie Talk-Master Solowjow seinen Gast korrigierte, seien anonym gewesen. "Das, was jetzt in Cherson geschieht, ist tatsächlich ein Manöver. Alles, was davor sich abspielte, hat mit Manövern nichts zu tun. (...) All diese Geschichten wurden von irgendjemandem, irgendwo, irgendwie beschlossen worden. Und nun hat sich ein Mensch gefunden, der sich dahingestellt und sagt, dass er solch eine Entscheidung getroffen hat." 

Irgendwo? Irgendwer? Dabei haben die russischen Streitkräfte einen Oberbefehlshaber. Und der heißt Wladimir Putin. Doch sein Name fällt im Zusammenhang mit Cherson kein einziges Mal. Nirgendwo.

Suworow und Kutusow statt Putin 

Dahinter verbirgt sich eine Taktik, zu der die Propaganda seit Jahren greift. Nichts soll einen Schatten auf den glanzvollen Namen Putins werfen. Wie ernst die Lage ist, erkennt man tatsächlich an dem Kalender des Kreml-Chefs. Hier gilt die Faustformel; Je abwegiger oder harmloser seine Termine, desto katastrophaler die Lage. Als die russischen Truppen im September Charkiw aufgeben mussten, weihte Putin in Moskau ein Riesenrad ein. Während Schoigu und Surowkin nun den Rückzug aus Cherson einläuteten, verteilte Putin scheinbar sorglos Orden und Medaillen an die Mitarbeiter des Medizinischen Biophysikalischen Zentrums Burnazyan. 

Statt Putin wird eine andere Figur auf die Bühne gezerrt: Alexander Suworow. Der russische Generalissimus gilt als genialer Stratege und ist vor allem durch seinen Alpenfeldzug von 1799 in die Geschichte eingegangen, bei dem russische und österreichische Truppen die Franzosen aus der Schweiz vertrieben und die französischen Satellitenstaaten zerstörten. Nun bemühen die Kreml-Propagandisten den großen Feldherren. 

"Kein einziger Posten sollte als Festung betrachtet werden. Es ist keine Schande, einen Posten an einen zahlenmäßig überlegenen Feind abzutreten. Im Gegenteil, dies ist die Kunst des Krieges, um sich rechtzeitig ohne Verlust zurückzuziehen. Ein verlorener Posten kann wieder genommen werden, und der Verlust von Menschen ist aber irreparabel. Ein Mensch ist oft wertvoller als ein Posten", zitierte Wladimir Solowjow in seiner Sendung "Voller Kontakt" Suworow. 

Chefin des Propagandasenders RT, Margarita Simonjan, erinnerte sich an einen anderen großen Heeresführer. "Solange die Armee intakt ist, besteht Hoffnung, den Krieg ehrenvoll zu beenden. Mit dem Verlust der Armee wird nicht nur Moskau, sondern ganz Russland verloren sein", zitierte sie Michail Kutusow. Der Fürst gilt in Russland als Held des Vaterländischen Krieges gegen Napoleon Bonaparte. Er hatte nach der russischen Niederlage bei der Schlacht bei Borodino 1812 Moskau den Franzosen überlassen und die Überreste seiner Armee zurückgezogen. 

"Ersetzen Sie das Wort Moskau durch das Wort Cherson"

"Ersetzen Sie das Wort Moskau durch das Wort Cherson. Vielleicht wird es dann klarer", schrieb nun Simonjan in dem Versuch, Surowikin auf eine Ebene mit Kutusow zu stellen. "Ich weiß mit Sicherheit, dass diese Entscheidung niemandem leichtgefallen ist. Weder denjenigen, die sie getroffen haben, noch für uns, die verstanden haben, dass es so kommen würde. Und trotzdem gebetet haben, dass es nicht dazu kommt. Denn es gab nur eine Alternative: Die Truppen in der kahlen Steppe begraben, mit Leichen von Mobilisierten zudecken und den Weg auf die Krim öffnen. Wäre das wirklich besser gewesen?", frag Simonjan auf ihrem Telegram-Account schnippisch und benutzt für mobilisierte Soldaten das abfällige Wort "Mobiki" – nur um im Anschluss daran, die dem Kreml genehme Sicht der Dinge in Feld zu führen.

"Indem wir Cherson verlassen haben, binden wir eine große Gruppe des Feindes in dieser Richtung fest", führt sie den Bericht des kreml-treuen Reporters Andrej Rudenko an. Ich werde erklären, warum: Während des Rückzugs unserer Streitkräfte steht zwischen uns und dem Feind der Dnepr. Die Brücken sind gesprengt. Unter diesen Umständen ist ein Angriff für sie unmöglich. Aber sie können auch die Truppen nicht von Cherson abziehen." 

Aus Niederlage wird in Russland Strategie 

Wie so oft münzt die Propaganda eine Niederlage in eine strategisch kluge Entscheidung um – auch wenn sie noch sehr schwierig war. Surowikin brauchte nur einen Rückzug anzuordnen, schon hagelte es für den Mann mit dem Spitznamen "syrischer Schlächter" Komplimente. Nicht nur seitens der Propagandisten, sondern auch von der Partei der militärischen Hardliner, angeführt von Ewgenij Prigoschin, Chef der Söldner-Truppe Wagner, und Ramzan Kadyrow, Präsident der tschetschenischen Teilrepublik. 

"Die Entscheidung, die Surowikin getroffen hat, ist schwierig. Aber er hat wie ein echter Mann gehandelt, der keine Angst vor Verantwortung hat", schrieb Prigoschin.

"Nachdem er alles Für und Wider abgewogen hat, traf General Surowikin die schwierige, aber richtige Entscheidung zwischen sinnlosen Opfern großen Statements zuliebe und der Rettung des unbezahlbaren Lebens unserer Soldaten", gab ihm Kadyrow recht. 

Das Vokabular sitzt.