Putins Mobilmachung Rekruten sterben noch in Russland – während die Polizei bei Razzien in Hostels neue zusammentreibt

Russland: So zeigt der Kreml mobilisierte Soldaten beim Training.
Russland: So zeigt der Kreml mobilisierte Soldaten beim Training. Doch die Realität der Mobilmachung sieht anders aus. Die meisten Mobilisierten landen ohne jegliche Vorbereitung im Krieg.  
© Yevgeny Yepanchintsev / Picture Alliance
In Russland beginnt eine neue Welle der Mobilmachung. Während die Polizei in Moskauer Hostels Razzien durchführt und Männer aus den Schlafsälen in die Rekrutierungsbüros treibt, sterben frisch eingezogene Soldaten in den Ausbildungslagern – noch bevor sie Russland verlassen. 

90.000 Soldaten – so hoch könnten die unwiederbringlichen menschlichen Verluste Russlands in dem Angriffskrieg auf die Ukraine sein. Das berichtete ein ehemaliger Offizier der russischen Geheimdienste und ein FSB-Offizier im Dienst gegenüber dem russischen unabhängigen Medium "Wazhnye Istorii" (Wichtige Geschichten"). Als unwiederbringliche Verluste werden dabei Tote, Vermisste und Verwundete, die nicht zum Militärdienst zurückkehren können, verstanden.

Die Angaben der beiden Quellen kommen den Zahlen nah, die Großbritannien Anfang September bekannt gegeben hat. Die britischen Geheimdienstler schätzten die Gesamtzahl der Verluste der russischen Armee zum damaligen Zeitpunkt auf mehr als 80.000 Menschen ein.

Insgesamt soll Moskau bis Ende September an die 200.000 Soldaten zur Invasion der Ukraine eingesetzt haben. Ein Verlust von rund 50 Prozent dieser Truppen würde auch die Mobilmachung erklären, die Wladimir Putin am 30. September für notwendig befunden und verkündet hat. Laut dem Verteidigungsminister Sergej Schoigu sollen bereits mehr als 200.000 neue Rekruten eingezogen worden sein. 

Die Kunst der Umbenennung 

Inzwischen rollt eine zweite Welle der Mobilisierung über Russland. Aus den Regierungen mehrerer Regionen hieß es in den vergangenen Tagen, man habe neue Zahlen bekommen, wie viele Soldaten zu mobilisieren sind. Unter anderem meldeten die Regionen Rostow, Kursk und Woronesch neue Vorgaben aus Moskau. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow beeilte sich, die Berichte zu dementieren. "Es gibt keine neue Mobilisierungs-Welle. Da muss mit jedem einzelnen Gouverneur geklärt werden, was sie meinen", erklärte er. 

Doch in Russland ist diese Erkenntnis beinahe schon sprichwörtlich geworden: Wenn Peskow etwas dementiert, dann muss es wahr sein. 

Das Dementi aus Moskau bewirkt nur eins: Die Gouverneure reden nicht mehr von einer neuen Welle der Mobilmachung, sondern von einer "Vervollständigung" der geforderten Truppenzahl. 

Die Kunst der Mobilmachung

Die Mittel, zu denen die Militärkommissariate greifen, um auf diese Zahlen zu kommen, werden immer rabiater – und kreativer. Einzugsbescheide werden per Whatsapp verschickt, Kommissare führen Männer direkt von ihrem Arbeitsplatz ab. In Moskau nahm die Polizei am Donnerstag mehrere Dutzend Menschen in einem Hostel im Osten der Stadt fest und brachte sie zum nächsten Rekrutierungsbüro. Zeugenberichten zufolge begann die Polizei gegen 4 Uhr morgens mit den Festnahmen der Gäste, darunter vor allem Schichtarbeiter. 

"Ohne etwas zu erklären, setzten sie uns in einen Bus und brachten uns zu irgendeinem Kino, einem Mobilisierungspunkt", erzählte einer der Festgenommenen "Radio Swoboda". "Dort bekamen die Leute Einzugsbescheide in die Hände gedrückt. Sie wurden in Uniform gesteckt und mit unbekanntem Ziel abtransportiert", so der 37-jährige Iwan. 

Die Pässe seien den Festgenommenen noch am Morgen abgenommen worden. Nachfragen, zu welchem ​​Zweck und warum die Polizei sie zudem Rekrutierungsbüro gebracht habe, seien ohne Antwort geblieben. "Sie sagten mir, ich soll einfach in der Halle sitzen, mich beruhigen und warten", schildert Iwan die Situation. 

"Hier kommt niemand mehr raus" 

Auch in anderen Hostels und Mini-Hotels kam es zu Durchsuchungen und Festnahmen. Der 34-jährige Korjun Akopjan berichtete, ein Polizist sei am Donnerstag gegen 9.30 Uhr morgens in den Schlafsaal seiner Herberge gekommen und habe ihn aufgefordert, sich beim Rekrutierungsbüro im Roman Viktyuk Theater zu melden. Dort sollte festgestellt werden, wer diensttauglich ist und wer nicht. 

Da Akopjan vorbestraft ist, beschloss er, der Aufforderung nachzukommen. "Ich habe keinen Einzugsbescheid bekommen, ich wurde nicht mit Gewalt hierher gebracht. Aber ich weiß, dass ein Weigern oder Diskutieren die Situation nur verschlimmern würde, insbesondere in meinem Fall. Als ich im Rekrutierungsbüro ankam, versuchte ich herauszufinden, warum ich hierhin bestellt wurde. Und ob ich wieder gehen kann, wenn ich keinen Einzugsbescheid erhalten habe. Als Antwort bekam ich, dass hier niemand mehr rauskommt", erzählte Akopjan. 

Nach seinen Angaben befinden sich etwa 50 Personen in dem Theater. Einige hätten bereits Militäruniformen erhalten.

Mobilisierungsrazzien in Moskau 

In den vergangenen Tagen fanden in Moskau mehrere solcher Razzien statt. Am Wochenende traf es das Hostel "Travel Inn". Augenzeugen berichteten, dass die Polizei am Nachmittag eintraf, den Eingang und den Bereich um die Herberge absperrte, die Zimmer durchsuchte und die männlichen Gäste zum Rekrutierungsbüro auf dem Messegelände WDNCh abtransportierte.

Am vergangenen Montag fand in einem Mini-Hotel in der Moskauer Vorstadt Myakinino, das vor allem Bauarbeiter beherbergte, eine Mobilisierungsrazzia statt. Die Polizei sei dort gegen 6 Uhr morgens eingetroffen und habe alle Männer zum Rekrutierungsbüro mitgenommen, meldete die Publikation "Achtung, Neuigkeiten".

Rekruten sterben noch in Russland 

Während die Polizei für neue Rekruten sorgt, sterben andere Mobilisierte, noch bevor sie das Territorium Russlands verlassen. Zuletzt ist in einem Ausbildungszentrum im Ural ein Rekrut ums Leben gekommen. Die offizielle Todesursache lautet "Drogenüberdosis", berichtet die Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf den Abgeordneten der Staatsduma Maxim Iwanow. Wie der frisch eingezogene 27-jährige Soldat im Ausbildungslager an Drogen gekommen sein könnte und was er konsumiert haben soll, erklärte der Abgeordnete jedoch nicht. 

Es handelt sich bereits um den vierten Todesfall in dem Trainingslager. Am 3. Oktober wurde bekannt, dass drei Mobilisierte kurz nach ihrer Ankunft in dem Ausbildungszentrum verstorben sind. Einer der Männer beging nach vorläufigen Angaben Suizid, ein zweiter soll einen Herzinfarkt erlitten haben. Beim dritten Mann habe man eine Leberzirrhose diagnostiziert. Er wurde nach Hause entlassen, verstarb aber kurze Zeit später. 

Insgesamt sind in den vergangenen zwei Wochen mindestens 18 mobilisierte Männer in den Ausbildungslagern verstorben. Einige der Toten sollen unter gesundheitlichen Problemen gelitten haben, die sich aufgrund der katastrophalen Bedingungen in den Unterkünften verschlimmert haben. Offiziell als Todesursache sind einige Suizide verzeichnet. Andere Mobilisierte starben unter ungeklärten Umständen. Ihre Angehörigen sagten aus, dass die Körper der verstorbenen Rekruten Zeichen von Schlägen aufgewiesen hätten.

Zum Sterben nach Hause zurückgekehrt 

Einer der Männer, die unter rätselhaften Umständen ums Leben gekommen sind, hieß Denis Koslow. Der 44-Jährige wurde am 27. September eingezogen und in ein Ausbildungslager gebracht. Drei Tage später wurden die Angehörigen darüber informiert, dass Denis nach Hause zurückkehren würde – in einem Krankenwagen. "Ich rannte zu den Nachbarn und bat um Hilfe, um Denis aus dem Krankenwagen zu holen. Er konnte selbst nicht mehr gehen. Er war bei Bewusstsein, aber erkannte selbst seinen Vater und mich nicht sofort", berichtete die Mutter von Denis in einem Gespräch mit "Radio Swoboda"

"Im Kommissariat sagte man, mein Sohn sei wegen eines kranken Knies freigestellt worden. Aber als er am 30. September nach Hause gebracht wurde, war seine Nase war gebrochen. Alle Nachbarn haben das gesehen. Und sein Bauch war ganz blau. Ich bin sicher, er wurde dort verprügelt, und zwar sehr stark. Aber jetzt kann ich nichts beweisen! Ich habe mein ganzes Leben hier gelebt und ich weiß, wie sie die 'Untersuchung' durchführen werden", sagte die verzweifelte Mutter in Anspielung auf die tatenlosen Behörden. 

Drei Tage nach seiner Rückkehr nach Hause wurde Denis beigesetzt. Andere Mobilisierte hätten berichtet, dass Denis in der Nacht auf den 28. September mit einem anderen Rekruten in Streit geraten sei, versichern die trauernden Eltern. Denis soll einen Schlag auf den Kopf bekommen haben und hingefallen sein. Telefonisch sei ihnen die Diagnose "stumpfes Bauchtrauma" mitgeteilt worden. Im amtlichen Arztbericht fehlt von dieser Diagnose jede Spur. 

Sehen Sie im Video:

Ukraine-Krieg: Grillen, trinken, warten – Video zeigt russische Rekruten
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Leerlauf statt Ausbildung: Russische Rekruten trinken und warten in der Kälte

Diese Videos sollen russische Rekruten zeigen, die keine Ausbildung erhalten – sondern warten, grillen und trinken. Mobilisierte Männer schlafen auf dem Boden und halten sich mit Lagerfeuern warm. Die Clips der Wehrpflichtigen verbreiten sich in den sozialen Medien.

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