Mehr als 7000 russische Soldaten sollen in den ersten 20 Tagen des Krieges in der Ukraine ihr Leben gelassen haben. So schätzen zumindest US-Geheimdienste die Situation der Armee Wladimir Putins ein. Es sind Schätzungen, offizielle Verlustlisten gibt es nicht. Vor allem Satellitenbilder, Fotos von Gefallenen und abgehörte Gespräche zwischen den russischen Militärs, die erstaunlicherweise über offene Kanäle kommunizieren, bilden die Grundlage für diese Zahl.
Ruslan Lewiew, Leiter von Conflict Intelligence Team (CTI) hält "angesichts des Maßstabs des Geschehens" diese Einschätzung für realistisch. Die Organisation ist eine Gruppe unabhängiger russischer Militärbeobachter, die bewaffnete Konflikte unter Verwendung offener Quellen analysiert und in den letzten Jahren zuverlässige Informationen über russische Truppen geliefert hat. Laut Lewieiw geht das CTI von mindestens 2500 bis 3000 toten russischen Soldaten aus. 7000 Tote hält er für die Obergrenze möglicher russischer Verluste, sagte er in einem Gespräch mit dem neuen Informationskanal "Populäre Politik", der von Mitstreitern von Alexej Nawalny ins Leben gerufen wurde, nachdem in Russland unabhängige Medien blockiert oder aufgelöst worden sind.
Womöglich mehr Gefallene als im ersten Tschetschenienkrieg
Die geschätzten Todeszahlen unter den russischen Truppen sind enorm. Zum Vergleich: Im ersten Tschetschenienkrieg in den Jahren 1994 bis 1996 bezifferte Russland die Zahl seiner Gefallenen mit 5042, im zweiten Tschetschenienkrieg von 1999 bis 2000 mit 7425. Innerhalb von drei Wochen könnten in der Ukraine also mehr russische Soldaten gefallen sein als im gesamten ersten Krieg um die Kaukasusrepublik, der bis heute im kollektiven Gedächtnis Russlands ein Trauma ist.
Auch unter den Befehlshabern gibt es erstaunlich viele Opfer. Mindestens drei Generäle gelten als tot: Generalmajor Andrei Kolessnikow, Generalmajor Witali Gerassimow und Generalmajor Andrei Suchowetzki. Der letztere kommandierte die 7. Garde-Luftsturm-Division. Sein Tod wurde von Wladimir Putin höchstpersönlich bestätigt.
Suchowetzki ist eines der wenigen russischen Opfer, die der Kreml eingesteht. Das russische Verteidigungsministerium veröffentlichte seit dem Beginn des Krieges ein einziges Mal Verlustzahlen. Am 2. März meldete Moskau den Tod von 498 Militärangehörigen. Alle unabhängigen Schätzungen gehen von einem Vielfachen aus.
Ukraine spricht von 14.700 Toten
Die Ukraine bezifferte die Zahl der toten russischen Soldaten am 25. Tag des Kriegs auf 14.700. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wandte sich mit martialischen Worten an die Bevölkerung Russlands. "An den Brennpunkten besonders schwerer Kämpfe sind unsere vordersten Abwehrlinien mit Leichen russischer Soldaten praktisch überhäuft. (...) Und diese Leichen, diese Körper werden von niemandem geborgen", sagte der ukrainische Präsident. "Das sind 14.000 Mütter, 14.000 Väter, Ehefrauen, Kinder, Verwandte, Freunde. Und Ihnen fällt das nicht auf?"
Die Angaben der ukrainischen Seite dürften überhöht sein. Es ist die übliche Kriegspraxis: Die gegnerischen Parteien übertreiben in ihren Berichten meist die Verluste des Gegners und spielen ihre eigenen herunter. Und dennoch: Auch die 498 Gefallenen, die vom Kreml benannt wurden, bedeuten 498 Tragödien. Wie wenig sich die Führung in Moskau aber um die eigenen Soldaten und ihre Hinterbliebenen schert, zeigt der Fall von Maxim Chanygin.
Einer von 498
Maxim starb am ersten Tag des Krieges, am 24. Februar. Einen Tag vor seinem 22. Geburtstag. Der unabhängige Sender "Radio Swoboda" besuchte seine Familie im russischen Dorf Osjorny – und sein leeres Grab.
Am 23. Februar hatte Maxim zum letzten Mal seine Mutter Ljudmila und seine Verlobte Daria angerufen. In der Militäreinheit 34670 der Region Belgorod diente er als Wehrdienstpflichtiger, war Mechaniker. Am nächsten Tag sollte er zu einer Übung verlegt werden, erzählte er. Die Telefone seien seiner Truppe abgenommen worden, daher sei für einige Zeit keine Kommunikation möglich, warnte er seine Angehörigen. Ljudmila habe trotzdem gehofft, dass ihr Sohn sich am 25. Februar melden würde, erzählte sie den Journalisten. An seinem Geburtstag. Doch stattdessen habe am 25. Februar der Militärkommissar angerufen.
Der Leiter des Militärregistrierungs- und Rekrutierungsbüros des Bezirks Tatishchevo überbrachte ihr die Nachricht vom Tod ihres Sohnes. Die offizielle Mitteilung über seinen Tod kam nicht per Post – sondern als Foto per Messenger.
"Was für eine Todesmitteilung?"
Nachdem Ljudmila nach der Schreckensnachricht wieder zur Besinnung gekommen war, rief sie die Einheit ihres Sohnes in Belgorod an: "Wo ist mein Kind?", habe sie gefragt. "Auf einer Übung", habe sie zur Antwort bekommen. "Welche Übung, ich habe die Todesmitteilung bekommen?", erinnerte sie sich, erwidert zu haben. Die Antwort am anderen Ende der Leitung: "Was für eine Todesmitteilung? Wir haben keine Informationen."
Der letzte Satz ist zu einer universellen Antwort russischer Beamter und Militärs für trauernde Angehörige geworden. Wo der Leichnam ihres Sohnes ist, weiß Ljudmila nicht. Auch nicht, wann und ob er in die Heimat geholt wird. Oder wo sie ihn abholen könnte. Die trauernde Mutter hat überall versucht, Informationen zu bekommen: bei der Staatsanwaltschaft von Belgorod, der Staatsanwaltschaft der Region Saratow, beim Komitee der Soldatenmütter Russlands. Überall bekommt sie dieselbe Antwort: "Wir haben keine entsprechenden Informationen." Beim letzten Versuch habe ihr der diensthabende Offizier in der Einheit ihres Sohns mittgeteilt: "Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen soll. Rufen Sie den FSB an."
"Wozu habe ich meinen Sohn großgezogen? Für wen, wofür?"
Als die Journalisten von "Radio Swoboda" die trauernde Familie besuchen, laufen im Staatsfernsehen die Nachrichten. Der Vertreter des Verteidigungsministeriums Igor Konaschenkow tritt mal wieder vor die Kameras und erzählt von einer "Sonderoperation". "Er sagt, es gibt keinen Krieg. Aber warum und wo ist dann mein Enkel gestorben?", fragt die Großmutter des gefallenen Maxims.
"Warum wurde mein Kind dorthin geschickt? Wozu? Wer braucht ihn, diesen Krieg? Ukrainer brauchen nicht, wir brauchen nicht. Wozu habe ich meinen Sohn großgezogen? Für wen, wofür? Damit er dort getötet wird?" Die Worte einer verzweifelten Mutter.
"Ich will nicht, dass die Mütter in den Schützengräben herumkriechen und ihre Söhne suchen"
Dieselben Fragen quälen tausende russische Familien. Nicht nur die der Gefallenen, sondern auch die der Gefangenen. Das ukrainische Militär führt jeden Tag Dutzende neue russische Soldaten vor, die in die Gefangenschaft geraten sind. Der Kreml bezeichnet diese Nachrichten als "Fakes".
Antonina Aksenowa, die stellvertretende Vorsitzende des Komitees der Soldatenmütter Russlands, erzählte, wie belastend das Fehlen jeglicher Informationen für die Familien ist: "Ich bin selbst Mutter eines gefallenen Soldaten und weiß besser als jede andere, wie schwer es ist, wenn man keine Informationen über den eigenen Sohn hat. Eine Mutter hat einen künftigen Soldaten unter ihrem Herzen getragen, ihn zu einem Mann großgezogen. Und jetzt, in einer solchen Situation, keine Informationen zu bekommen, ist so schwer, dass ich es nicht in Worte fassen kann", sagte sie in einem Interview mit "Euronews".
Sie erinnerte sich, dass während des Tschetschenienkriegs die Eltern der gefallenen Soldaten noch am selben oder am nächsten Tag über den Tod informiert wurden. Damals seien die Mütter noch jahrelang auf der Suche nach ihren Kindern durch Tschetschenien gereist. "Dann wurden die Söhne anhand ihrer Knochen und DNA-Analysen identifiziert. Manchmal wurde Jahrzehnte später eine Übereinstimmung gefunden, und dann brachten die Mütter die Knochen nach Hause. Und ich will wirklich nicht, dass es jetzt genauso sein wird, dass die Mütter in den Schützengräben herumkriechen und ihre Söhne suchen, das will ich wirklich nicht!" Doch der Kreml holt bislang weder seine Toten noch seine Vermissten aus der Ukraine zurück.
Wie sehr die russische Bevölkerung der eigenen Regierung misstraut, zeigt ein Gerücht, das in den letzten Wochen landein landauf die Runde macht: Die Schleudersitze der russischen Flugzeuge und Helikopter sollen mit Absicht dysfunktional gemacht werden, damit die Soldaten Abstürze nicht überleben und nicht in Gefangenschaft geraten können. Ein Gerücht. Aber es spricht Bände.