Wladimir Putin hat sich verrechnet. Daran haben internationale Militärexperten nach vier Wochen Krieg praktisch keinen Zweifel mehr. Der russische Präsident wollte das Brudervolk im Handstreich "befreien", seine Truppen stießen aber – offenbar völlig unerwartet – auf eine wehrhafte Armee und ein unnachgiebiges Volk. Selbst für Mariupol, wo viele Einwohner ohne Strom, Heizung, Wasser und Verpflegung ausharren müssen, kommt eine Kapitulation nicht infrage. Daran hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj keinen Zweifel gelassen.
Es geht nahezu an allen Fronten kaum vor und zurück. Auf beiden Seiten gibt es Tausende Tote; nicht zuletzt unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Millionen Ukrainer:innen sind auf der Flucht. "Keine Seite ist der anderen überlegen", zitierte NBC News einen ungenannten Nato-Vertreter. Und weiter: "Wenn wir nicht schon in einem Patt stecken, dann entwickeln wir uns sehr schnell dorthin."
"Ein Patt ist kein Waffenstillstand"
Das sind alles andere als gute Nachrichten. Denn Pattsituationen haben in der Vergangenheit eher selten dazu geführt, dass die Kriegsparteien die Aussichtslosigkeit ihrer Situation begriffen und die Kämpfe aufgegeben hätten. "Ein Patt ist kein Waffenstillstand", stellt das angesehene US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) fest. "Es ist ein Zustand in einem Krieg, in dem jede Seite Offensivoperationen durchführt, die die Situation nicht grundlegend ändern." Solche Angriffe könnten enorme Verluste zur Folge haben. "Das Patt wird wahrscheinlich sehr blutig sein, besonders wenn es sich hinzieht", urteilt das ISW. Vor allem in Mariupol und Charkiw seien entsprechende Entwicklungen bereits zu sehen. Auch in der Hauptstadt Kiew drohe ein solche festgefahrene Lage.
Die Kriegsforscher befürchten das Schlimmste: "Wenn der Krieg in der Ukraine in eine Pattsituation übergeht, werden die russischen Streitkräfte weiterhin ukrainischen Städte bombardieren und beschießen, sie verwüsten und Zivilisten töten." Dies selbst, wenn die ukrainischen Streitkräfte den russischen Angreifern weiter Verluste zufügten und immer wieder Gegenangriffe durchführten. Die Russen könnten es darauf anlegen, den Willen der Ukrainer zu brechen, indem sie demonstrierten, dass sie sich nicht vertreiben lassen und ihre Angriffe nicht verhindert werden könnten – selbst wenn sie nicht in der Lage sind, ukrainische Städte einzunehmen und zu kontrollieren.
Angriffe, Flüchtende, Gas-Lieferungen: Grafiken zum Konflikt in der Ukraine

Droht in der Ukraine ein neues Verdun?
Laut dem IWS könnte sich eine Lage entwickeln wie bei den großen Patt- oder Materialschlachten des Ersten Weltkriegs: Verdun, die Somme und das belgische Passendale stehen für den ultimativen Schrecken des Krieges. Bei Verdun (1916) tobte die Schlacht zehn Monate, mehr als 700.000 Deutsche und Franzosen wurden getötet, verwundet oder sind bis heute vermisst. An der Somme (1916) bezifferten sich die Verluste in den fünfmonatigen Kämpfen auf mehr als eine Million Menschen. Und der Dritten Flandernschlacht bei Passendale (1917) fielen in rund drei Monaten etwa 580.000 Menschen zum Opfer. Wahrhaft apokalyptische Aussichten, die auch die Haltung der Nato, nicht aktiv in den Krieg eingreifen zu wollen, tagtäglich auf die Probe stellen würde.
Verhindern könnte das alles der Mann, der den Krieg vom Zaun gebrochen hat: Wladimir Putin. Der stehe angesichts des schlechten Kriegsverlaufes aber mit dem Rücken zur Wand, glaubt US-Präsident Joe Biden. Ein Indiz sei der Einsatz der hochmodernen Hyperschallraketen, ein anderes, dass im Moskauer Sicherheitsapparat teils offenbar die Führung ausgewechselt wird, wie der Geheimdienstexperte Andrej Soldatow in einem "Spiegel"-Interview sagte.

Niemand will Putin die Lage erläutern
Putin halte offensichtlich nicht eine eigene Fehleinschätzung für möglich, sondern mache Geheimdienste und Militärs dafür verantwortlich, dass der Krieg nicht nach seinen Vorstellungen laufe. "Auch FSB-Offiziere und sogar Generäle werden ins Gefängnis geworfen. Und zugleich hat der Mann an der Spitze sehr genaue Ansichten darüber, was die Ukraine sei", so Soldatow zum "Spiegel". "So einem Menschen etwas über die Lage in der Ukraine zu melden, was ihm missfällt, ist eine enorme Herausforderung. Dazu war offenbar niemand bereit." Und ist es scheinbar auch jetzt noch nicht.