Im vergangenen Herbst sorgte Nikita Juferew für Furore. Zusammen mit sechs Kollegen gelang es dem Abgeordneten aus Sankt Petersburg einen offiziellen Appell an die Staatsduma durchzubringen: Wladimir Putin des Hochverrats anklagen und des Amts entheben – dies war ihre Forderung, die sie im russischen Parlament diskutiert haben wollten. Juferew war einer der Initiatoren des Appells, dessen Einreichung bei einer Sitzung des kommunalen Rats des Bezirks Smolninskoje beschlossen wurde. Ausgerechnet in diesem Bezirk von Sankt Petersburg ist Wladimir Putin einst aufgewachsen. Ausgerechnet hier stemmt man sich gegen seine Diktatur (Der stern berichtete).
Der Appell wurde erwartungsgemäß von der Duma ignoriert. Stattdessen hängte man den sieben Unterzeichnern ein Verfahren wegen angeblicher "Diskreditierung der russischen Streitkräfte" an. Weil er nicht vorbestraft ist, wurde Juferew zu einer Geldstrafe verurteil: knapp 800 Euro. Doch er denkt nicht daran, diese Summe zu bezahlen, "um die Putin-Diktatur zu füttern", wie er es sagt.
Juferew musste Russland verlassen. Denn einer Geldstrafe folgt schnell eine Haftstrafe. Doch seinen Protest gibt er nicht auf. Aus der Ferne führt er nicht nur seine Arbeit als Kommunalabgeordneter fort, sondern lässt den russischen Behörden keine Ruhe. Nun hat er sich mit einer offiziellen Anfrage an die russische Generalstaatsanwaltschaft und den Direktor des Geheimdienstes FSB gewandt. Er verlangt eine Erklärung: Wer wird für die Organisation der Meuterei zur Verantwortung gezogen, die Russland erschüttert hat? Wer für den Tod russischer Soldaten und die Zerstörung von Militärtechnik?
stern: Herr Juferew, auf seinem Marsch nach Moskau hat Jewgeni Prigoschin sechs Hubschrauber und ein Flugzeug der russischen Armee abschießen lassen. Dabei sind mindestens 15 Soldaten ums Leben gekommen. Sie verlangen von der Generalstaatsanwaltschaft und dem FSB nun zu erklären, wie man die Schuldigen finden und zur Verantwortung ziehen will. Was hat sie zu diesem Schritt bewegt?
Juferew: Der Kampf zwischen Putin und Prigoschin ist ein Kampf zweier Monster. Hier darf man sich auf keine Seite schlagen. Das sind Mörder. Das sind Menschen, die Russland und der Welt weder Frieden noch Demokratie bescheren werden. Einer von ihnen heißt Putin. Ein Kriegstreiber. Und der andere ist der Schlächter von Bachmut. Seinen Mordgesellen ist Putin sogar noch zu weich. Beide werden Russland keine rosige Zukunft bringen. Dass diese beiden Krokodile sich nun gegenseitig an die Gurgel gehen, ist also sehr gut. Solange sich diese beiden Größen einen Kampf liefern, kann ein Dritter ihnen ein Schnäppchen schlagen.
So wie ich einst bei den Kommunalwahlen in Sankt Petersburg. Damals lieferten sich zwei Lager der Putin-Partei "Einiges Russland" einen Konkurrenzkampf und konnten sich nicht einigen, wer der Sieger sein sollte. Also entschlossen sie sich, mal ausnahmsweise wirkliche Wahlen zu veranstalten. Am Ende war es mein Team, das diese Wahl gewann.
Solche Gelegenheiten muss man nutzen. Meinen Brief habe ich geschrieben, um die Behörden in eine peinliche Lage zu bringen. Nach dem russischen Gesetz müssen sie mir als Abgeordnetem eine offizielle Antwort liefern. Sie müssen dann schlüssig begründen, warum sie Prigoschin nicht belangen. Sollen sie sich da rauswinden! Sollen sie wüten! Je mehr sie vor Wut schäumen, umso besser.

Kommunalpolitiker des Bezirks Smolninskoje der Stadt Sankt Petersburg. Seit 2019 gehört er dem kommunalen Rat an. Ursprünglich kandidierte der 35-Jährige für die Partei "Jabloko" (zu Deutsch Apfel). Inzwischen ist er jedoch parteilos.
Denken Sie, die Generalstaatsanwaltschaft und der FSB werden Ihnen wirklich antworten?
Ich denke, ich bekomme eine Antwort. Aber es wird wie auch in anderen Fällen wahrscheinlich eine Ausrede sein. Allerdings bin ich sehr gespannt, wie man die Abschaffung der Rechtsstaatlichkeit in der Russischen Föderation begründen kann.
Ist es das, was wir in den vergangenen Tagen in Russland beobachtet haben? Die Abschaffung der Rechtsstaatlichkeit?
Wir haben gesehen, wie 8000 Söldner, also eine kleine Einheit, seelenruhig zwei Millionen-Städte einnehmen konnten – und zwar innerhalb eines einzigen Tages. Mehr noch: Am selben Tag bewältigte diese kleine Truppe 800 Kilometer in Richtung Moskau. Das ist ein massiver Schlag gegen Putin und gegen das gesamte Staatswesen Russlands. Wir haben gesehen, dass die Macht Putins nicht stabil ist. Dass das Volk nicht auf die Straßen gegangen ist, um seinen Präsidenten zu verteidigen. Dass die Leute, die Prigoschin noch in Rostow hätten stoppen müssen, dies nicht gewollt oder gekonnt haben.
Die Meuterei von Prigoschin hat gezeigt, in welchem Ausmaß Putins Thron wackelt. Sie hat demonstriert, dass Putin nicht in der Lage ist, sein Wort zu halten. Er versprach zuerst: Die Verräter werden sich vor dem Gesetz und dem Volk verantworten. Einen Tag später heißt es: Sollen sie doch mit Frieden gehen. Was tut es schon zur Sache, dass sie einen Aufstand angezettelt haben? Was tut es schon zur Sache, dass 15 Piloten tot sind?
Die Ermittlungen gegen Prigoschin wurden tatsächlich am Dienstag offiziell eingestellt.
Und das auch noch mit dieser lustigen Formulierung: "Im Zuge der Ermittlungen hat sich rausgestellt, dass die an der Meuterei Beteiligten von ihrer Handlung abgelassen haben." Eine sehr vielsagende Erklärung. Wenn also ein Vergewaltiger die Vergewaltigung beendet, muss er nach dieser Logik nicht bestraft werden. Wenn ein Mörder seine Mordserie beendet, muss er auch nicht bestraft werden.
So geht es nicht! Das ist eine Zerstörung des Rechtsstaats. Der Präsident, der FSB, alle Sicherheitsdienste haben zusammen das Strafgesetzbuch abgeschafft.
Juristen haben im Fall der Prigoschin-Meuterei mindestens 30 eindeutige Verstöße gegen das Strafgesetzbuch festgestellt. Der Putsch als solcher mag gescheitert sein. Der Putsch gegen die Rechtsstaatlichkeit ist aber gelungen. Das Strafgesetzbuch ist liquidiert!
Was bedeutet diese Meuterei für Putin?
Es stellt sich raus: Putin ist leicht manipulierbar. Dafür reichen 8000 Söldner. Man kann ihm leicht Angst einjagen. Das haben nicht nur wir gesehen, sondern auch die russischen Eliten. Ihr Glaube an seine Stärke und seine Führungskraft gerät ins Wanken. In diesem Sinne ist dies der große Erfolg der Prigoschin-Meuterei.
Warum entblößt Putin selbst diese Schwäche, straft sich selbst Lügen und entzieht die Meuterer der Justiz?
Ich denke hinter den Kulissen ist das Spiel noch nicht zu Ende. Die Wagner-Truppe ist durch das ganze Land direkt auf den Kreml zumarschiert. Vielleicht ist die Gefahr noch nicht gänzlich gebannt und Putin erhofft sich, auf diese Weise die Loyalität der Wagner-Söldner erkaufen zu können. Die Abschaffung des Strafgesetzbuches ist aber ein teurer Preis für diese Loyalität. Genauso wie die Vergebung des Mordes an 15 Piloten. Der Umstand, dass Putin bereit ist, den Verlust von 15 hochqualifizierten und damit sehr teuren Piloten zu verzeihen, um die Meuterei vergessen zu machen, zeigt die Instabilität seiner Position. Und das fühlt er.
Wen muss Putin nun am meisten fürchten?
Putin hat sich selbst mit seiner Unentschlossenheit einen immensen Schaden hinzugefügt. Sein oberstes Ziel wird nun sein, das Gefühl zu beseitigen, die Führungsmacht verloren zu haben.
Putin hat alle verraten. Er hat zuerst die Wagner-Leute verraten. Dann hat er das Militär verraten.
Die russischen Eliten haben jetzt eine hervorragende Gelegenheit, sich seiner zu entledigen – im politischen Sinn. Sie wissen jetzt, dass die Öffentlichkeit sich ihnen nicht in den Weg stellen wird. Ein Teil wird seine Absetzung sogar begrüßen. Vor allem diejenigen, die jetzt die Wagner-Söldner unterstützt haben.
Prigoschin hat eine Tür aufgestoßen, die für das Regime sakral ist. Es ist nicht entscheidend, dass er sie hat wieder zufallen lassen. Es ist entscheidend, dass alle gesehen haben, wie einfach sie zu öffnen ist.
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Das erklärte Zeil von Prigoschin war die Absetzung von Verteidigungsminister Schoigu. Von ihm kam aber kein einziges Wort zu dem Wagner-Aufstand. Was denken Sie, was mit Schoigu nun geschehen wird?
Was spielt es denn für eine Rolle? (lacht) Ob nun er der Verteidigungsminister ist, oder ein anderer? Das Schöne an Schoigu ist: Er ist gut in der PR seiner selbst, aber er ist unnütz, wenn es um den Aufbau funktionsfähiger Strukturen geht. In diesem Sinn hat die Ukraine sehr viel Glück gehabt, dass wir so einen Verteidigungsminister haben. Er ist wie er ist – und das ist gut so. Würde ein Mensch à la Prigoschin dieses Amt bekleiden, der in der Lage ist mit 8000 Söldnern durch halb Russland zu marschieren, würde der Krieg ganz anders aussehen. Daher: Ein Glück, dass wir Schoigu haben. Er kann bleiben. Schoigu ist militärisch vollkommen talentfrei. Genauso einen Mann braucht Russland in der gegenwärtigen Situation.