Mit jedem Tag, den der Krieg in der Ukraine andauert, nimmt auch die Propaganda im russischen Staatsfernsehen an Ausmaß und Absurdität zu. Galt ein nuklearer Krieg in den letzten sieben Jahrzehnten als absolutes Tabu, heben ihn die Kreml-Propagandisten jetzt nicht nur in den Bereich des Möglichen. Nein, sie schreien gerade zu danach. Erst kürzlich demonstrierte Putins Chef-Propagandist Dmitri Kisseljow, wie Großbritannien unter einer "radioaktiv verseuchten Tsunamiwelle" versenkt werden könnte. (Mehr dazu lesen Sie hier).
Für die Propaganda gibt es keine Grenzen mehr. Kritik an dem gefährlichen Kurs rutscht nur selten durch – insbesondere von offizieller Stelle. Umso erstaunlicher war ein Antrag eines Abgeordneten der Regionalduma von Kostrama. Wladimir Michajlow stellte in einer Sitzung des Parlaments der Region den Antrag, eine Appellation an Wladimir Putin zu richten, in der die Unzulässigkeit eines atomaren Erstschlags seitens Russlands deutlich gemacht werden sollte.
"In letzter Zeit diskutieren in den wichtigsten russischen Massenmedien Staatsbeamte, Politiker, Journalisten und Experten das Szenario eines russischen atomaren Erstschlags", erklärte Michajlow sein Motiv für den Antrag. "Der Einsatz von nuklearen Waffen seitens Russlands in einem Erstschlag widerspricht jedoch der Militärdoktrin Russlands, der zufolge nukleare Waffen nur dann zum Einsatz kommen dürfen, wenn die Existenz unseres Staates bedroht wird. So eine Gefahr besteht derzeit für Russland nicht", machte er deutlich.
"Der Einsatz von Atomwaffen durch Russland wird einen globalen nuklearen Krieg auslösen, an dessen Ende die gesamte Menschheit vernichtet wird. Ich halte es für absolut unzulässig, dass Russland als erstes einen nuklearen Schlag ausführt."
"Ich verlasse aus Protest diese Sitzung"
Schweigen und gesenkte Köpfe – auf diese deutlichen Worte reagieren die anderen Abgeordneten mit absoluter Apathie. Der Vorsitzende der Regionalduma lässt sogleich über den Antrag abstimmen. Das Ergebnis ist so vernichtend wie vielsagend: 26 Abgeordnete lehnen es ab, über den Antrag auch nur zu diskutieren, drei enthalten sind und nur zwei stimmen dafür.
"Hochverehrte Kollegen, Sie verstehen offenbar nicht ganz, was heute geschieht", kommentierte Michailow dieses Ergebnis. "Russland war nie eine Bedrohung für die Welt und die Menschheit. Wir sind mit den Ideen des Friedens, des Guten, der Gerechtigkeit aufgewachsen. Angesichts dessen, dass sie nicht einmal über die Appellation diskutieren wollen, geschweige denn sie unterstützen, verlasse ich aus Protest diese Sitzung."
Und der 57-Jährige wurde noch deutlicher: "Das was Sie hier tun, halte ich für die Unterstützung eines möglichen atomaren Erstschlags. Sie haben faktisch für einen nuklearen Krieg gestimmt, indem Sie abgelehnt haben, über meinen Vorschlag auch nur nachzudenken."
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Sinnbild für den Zustand Russlands
Nach diesen Worten stand Michailow auf und packte seine Sachen. Die meisten seiner Kollegen starrten weiter auf die Tische vor Ihnen oder blätterten angestrengt in ihren Unterlagen, während einem perplexen und stotternden Dumavorsitzenden nichts Besseres einfiel, als Michailow einen Arztbesuch zu empfehlen.
Die Episode aus der Duma von Kostrama führt nicht nur das regionale Parlament vor, sondern demonstriert die Zustände, in denen Russland erstarrt. Die Angst vor dem Kreml ist so groß, dass nicht einmal die Gefahr eines atomaren Kriegs die politische Elite aufzurütteln vermag. Die Angst die angehäuften Pfründen zu verlieren ist so groß, dass ein Aufblicken vom Tisch den meisten wie ein Wagnis erscheint. In diesem Russland wird jener Mann zum Arzt geschickt, der die Welt nicht unter nuklearer Asche begraben sehen möchte.
Während im Fernsehen die Propagandisten mit grinsenden Gesichtern Putin zitieren, wenn über das Ende der Menschheit debattiert wird. "Wir kommen als Märtyrer ins Paradies, und sie verrecken einfach", sagt einst der Mann aus dem Kreml über den Ausgang seines nuklearen Kriegs.