Comeback der Denunzianten Die einen protestieren, die anderen denunzieren: Das Revival einer stalinistischen Praxis

Moskau, Russland: Polizisten bei einem Einsatz gegen Anti-Kriegs-Demonstranten Anfang April
Moskau, Russland: Polizisten bei einem Einsatz gegen Anti-Kriegs-Demonstranten Anfang April. Der Kreml geht gegen alle vor, die seiner Linie nicht folgen – auch mit Hilfe von Denunzianten. 
© Vyacheslav Prokofyev / Picture Alliance
Schüler schwärzen Lehrer an, Autofahrer verpetzen Autofahrer, Ehefrauen rächen sich an Ehemännern: Das Denunziantentum feiert in Russland ein Comeback. Eine Praxis, die einst Stalins Säuberungen möglich machte. 

Der Große Terror – diese wenigen Worte reichen, um den meisten russischen Bürgern einen Schauer über den Rücken jagen zu lassen. Zwischen Juli 1937 und November 1938 wurden auf Geheiß von Josef Stalin im Rahmen seiner größten "Säuberung" 1,5 Millionen Menschen verhaftet. Die Hälfte der vermeintlichen Feinde und Verräter wurde hingerichtet, die andere Hälfte endete in Gulags. Im kollektiven Gedächtnis Russlands hinterließ die blutige Säuberungswelle eine schwärende Wunde. Und die Führung im Kreml reißt sie kaltblütig auf – der Geist von 1937 soll über jedem schweben.

Den Geist des Großen Terrors beschwört der Kreml aber nicht allein herauf. Ihm helfen emsige Helfer und rufen wieder eine Disziplin ins Leben, die einst Stalins Säuberungswellen erst ermöglichte: Denunziantentum. In den 1930er-Jahren reichte eine beweislose Anschuldigung – und schon wurde der unbequeme Nachbar, der unliebsame Kollege oder der hartnäckige Konkurrent in der Nacht vom Geheimdienst NKWD abgeholt und ward nie wieder gesehen. 

Noch reichen die Methoden des Putin-Regimes nicht an die stalinistischen Methoden heran. Doch das Denunziantentum kehrt in die russische Gesellschaft zurück. Ins Visier der Stukatschi – wie Informanten im russischen Jargon bezeichnet werden – geraten alle, die es wagen, Putins Krieg in der Ukraine zu verurteilen oder den Hauch von Zweifel an der Kreml-Darstellung erkennen lassen. 

Lehrerin wird von Schülern in Falle gelockt

Für Aufsehen gesorgt hat etwa der Fall einer Lehrerin aus Korsakow, einer kleinen Stadt auf der pazifischen Insel Sachalin. Die 57-jährige Marina Dubrowa wurde von ihren Schülern in die Falle gelockt. Alles fing damit an, als sie im Unterricht einer achten und einer elften Klasse ein YouTube-Video zeigte, in dem Kinder auf Russisch und Ukrainisch über eine "Welt ohne Krieg" singen. Einige der Schüler hätten sie daraufhin in der Pause auf den Krieg in der Ukraine angesprochen und nach ihren Ansichten gefragt, erzählte die Englischlehrerin der Lokalzeitung "Sibirien Realitäten".

"Ich antwortete, dass ich die Kriegshandlungen für einen Fehler halte. Wie es sich herausstellte, wurde das Gespräch mit einem Telefon aufgezeichnet. Und diese Aufzeichnung landete bei der Polizei", berichtete Dubnowa.

Am nächsten Tag bestellte der Schulleiter sie in sein Büro und erklärte ihr, dass "sie die Studenten nicht politisieren" dürfe. Nur wenige Tage später kamen Polizisten in die Schule und erstellten ein Protokoll gegen Dubrowa – wegen angeblicher "Diskreditierung" des russischen Militärs. Am selben Tag verhängte das Stadtgericht Korsakow gegen die Lehrerin eine Geldstrafe von 30.000 Rubel. Eine hohe Summe, wenn man bedenkt, dass Lehrer in den russischen Provinzen im Durchschnitt zwischen 15.000 und 20.000 Rubel im Monat verdienen. 

Autofahrer schwärzt Autofahrer an, Metro-Passagierin verpetzt Metro-Passagierin

In Moskau zeigte eine Frau eine Passagierin der Metro an, nachdem diese während der Fahrt ein Video des ukrainischen Präsidenten Selenskyj ohne Kopfhörer in ukrainischer Sprache laufen ließ. Die Denunziantin rief umgehend die Polizei an und beschrieb die vermeintliche Übeltäterin: Die Frau habe eine Hose in der Farbe Khaki getragen, eine rosa Tasche dabeigehabt und eine Kurzhaarfrisur gehabt. 

In Krasnodar nahm die Polizei einen 32-jährigen Mann fest, weil er auf ein Plakat mit dem Symbol Z gespuckt hatte. Ein Video zeigt, wie er an einer roten Ampel anhält, aussteigt und in Richtung des Plakats mit dem Slogan "Wir lassen die unseren nicht im Stich" ausspuckt und wieder zu seinem Auto zurückkehrt. Seine Aktion wurde vom Videorecorder an der Windschutzscheibe des Autos hinter ihm aufgezeichnet und das Video an die Polizei übergeben. Ein Bezirksgericht in Krasnodar befand den Mann der "Diskreditierung der russischen Streitkräfte" schuldig und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubel. 

An dieser Stelle hat unsere Redaktion Inhalte von Twitter / X integriert.
Aufgrund Ihrer Datenschutz-Einstellungen wurden diese Inhalte nicht geladen, um Ihre Privatsphäre zu schützen.

Denunziation als Mittel der Rache 

Dass die Denunziationen – ganz so wie einst zu Zeiten des Großen Terrors – aus eigennützigen Motiven erfolgen, zeigt ein weiterer Fall aus Moskau. Dort beschuldigte eine Frau ihren Mann, sich den ukrainischen Streitkräften anschließen zu wollen. Die Polizei nahm Ermittlungen auf. Es stellte sich heraus, dass der Mann sie betrogen hatte und sie sich auf diese Weise an ihm rächen wollte. Einige Tage später zog die Frau ihre Anzeige zurück und beteuerte, ihr Gatte stünde felsenfest hinter Putin.  

In Russland werden wieder "Verräter" gejagt

Das Mittel der Denunziation wird in Russland wieder nicht nur begrüßt, sondern gefördert. Die Jagd nach vermeintlichen "Nationalverrätern" beginnt erneut. Der russische Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin forderte erst kürzlich, russischen Kritikern des Militäreinsatzes in der Ukraine die Staatsbürgerschaft zu entziehen. 

So manch einer fühlt sich an dunkle Zeiten erinnert. Und es ist Wladimir Putin selbst, der die Vergangenheit seinen Untertanen ins Gedächtnis ruft. "Wir haben nicht das Jahr 1937." Jahr für Jahr wiederholt der Kreml-Herr diesen Satz wie ein Mantra. Es werde keine systematischen Säuberungen geben, versprach er. Es würden auch nicht die aus der stalinistischen Zeit berüchtigten kleinen schwarzen Autos des sowjetischen Geheimdienstes NKWD ausrücken, in denen damals die vermeintlichen Volksfeinde zu Tausenden abtransportiert wurden – in Richtung der Gulags.

Einmal ließ sich Putin sogar zu einer scherzhaften Erklärung verleiten, warum die Zeit des Großen Terrors nicht zurückkehren werde. "Ich kann mich nicht erinnern, dass es im Jahr 1937 das Internet gegeben hätte", erklärte er.

Video: Russland: Festnahmen nach Demonstrationen gegen Krieg, verstärkte Luftangriffe in Ukraine gemeldet
Russland: Festnahmen nach Demonstrationen gegen Krieg, verstärkte Luftangriffe in Ukraine gemeldet

"Wir haben die Angst vor diesem Schreckensjahr im Blut"

Doch das Lachen bleibt nun vielen im Hals stecken. Denn das Jahr 1937 ist für Putin offenbar im Verlauf seiner 21-jährigen Herrschaft zu einem Maßstab geworden. Für den Historiker Iwan Kurilla war bereits vor einem Jahr klar gewesen: Der russische Präsident erwähnt dieses Datum nicht von ungefähr. "Wir haben die Angst vor diesem Schreckensjahr im Blut", sagte der Professor, der an der unabhängigen Europäischen Universität in Sankt Petersburg lehrt, über sich und seine Landsleute im Gespräch mit dem stern. "Das Jahr 1937 hat sich als Symbol des stalinistischen Terrors in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt. Und dies nutzt die Regierung für sich aus. Der Kreml lässt die Drohung im Raum schweben: Falls es notwendig sein sollte, könnten die Zustände von 1937 zurückkehren." 

Die Angst, irgendwann im Gulag zu enden, wohne der russischen Gesellschaft inne und erschwere die Entstehung jeglicher Widerstandsbewegungen. "Der Kreml schlachtet diese Angst skrupellos und gezielt für sich aus."

PRODUKTE & TIPPS

Kaufkosmos