Schande ohne Beispiel Die Rebellion von Prigoschin endet in kollektiver Verhöhnung des Staats

Meuterei in Russland: Wladimir Putin will am Morgen die "Verräter" radikal bestrafen, am Abend ist alles vergessen.
Meuterei in Russland: Wladimir Putin will am Morgen die "Verräter" radikal bestrafen, am Abend ist alles vergessen. Verteidigungsminister Schoigu ließ sich nicht einmal blicken. 
©  Stanislav Krasilnikov/TASS PUBLICATION / Imago Images
Russland hat viel gesehen. Doch das Spektakel, das Jewgeni Prigoschin und Wladimir Putin nun veranstaltet haben, ist beispiellos. Eine Tragödie, deren Ende noch aussteht. 

Jewgeni Prigoschin hat es tatsächlich geschafft, dem Tod von der Schippe zu springen – zumindest vorerst. Der Anführer der so genannten Söldnertruppe Wagner hat alles auf eine Karte gesetzt. Anstatt auf seine Festnahme oder Beseitigung zu warten, ging er zum Angriff über. Er marschierte mit seinen Kämpfern Richtung Moskau

Wenige Hundert Kilometer vor der russischen Hauptstadt machte er jedoch kehrt. Obwohl das einzige, was ihm im Weg stand, ein paar Bagger waren, die in aller Verzweiflung versuchten, die Straßen nach Moskau zu zerlegen.

Das Spektakel, das in Russland am Samstag ausgetragen wurde, ist in seinem Irrsinn kaum zu glauben: Eine Stadt, die von Wagner-Söldnern eingenommen wird. Ein Prigoschin, der auf seinem Telegram-Kanal Hinrichtungen der Armeeführung ankündigt. Ein Staatsfernsehen, das sein Programm unterbricht und plötzlich mit Namen um sich wirft, die seit Monaten ein Tabu waren. Ein panischer Wladimir Putin, der sich aus seinem Bunker wagt und an seine Nation wendet, faktisch den Kopf von Prigoschin fordert, nur um kurz darauf die Flucht aus Moskau zu ergreifen. Die Bombardierung von Woronesch, sechs abgeschossene Hubschrauber, aufgerissene Straßen nach Moskau. Ein Bürgermeister, der den Montag für die Hauptstädter zu einem freien Tag erklärt – damit niemand auf die Straßen geht. 

Russland: Eine Rebellion wie ein Theaterstück

Und dann springt der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko aus der Kiste und verkündet: Ich habe alles geregelt, alles ist in Ordnung, wir leben wie zuvor. Die Wagner-Truppe kehrt an die Front zurück und Prigoschin kommt nach Minsk

Am Freitag ließ sich Putin vom Generalstaatsanwalt Krasnow über die Rechtmäßigkeit der Einleitung eines Strafverfahrens gegen Prigoschin aufklären. Am Samstagmorgen forderte Putin, die Meuterer und Verräter zu bestrafen. Am Abend desselben Tages erklärte sein Sprecher, das Strafverfahren werde geschlossen. Einfach so. Als ob alles nur ein Theaterstück gewesen wäre. 

Aber es war kein Theaterstück, sondern Realität: eine kollektive Verhöhnung des Staates. Dies ist ein Versagen des Systems. Und die Tragödie ist noch nicht zu Ende.

Was jetzt mit Prigoschin in Minsk geschieht, ist offen. Ohne seine Wagner-Söldner ist er dort schutzlos. Doch was unvergessen bleibt, sind Prigoschins Worte über "das Böse, das die militärische Führung des Landes" für Russland bringt, über die "Kreatur" Schoigu, der "Einhalt geboten wird" und die Forderung nach der Auslieferung des Verteidigungsministers und des Generalstabschefs zu ihrer Hinrichtung. 

Unvergessen bleiben aber auch die Worte Putins über "exorbitante Ambitionen und persönliche Interessen, die zum Verrat führten. Zum Verrat am eigenen Land und am eigenen Volk". Worte über "einen Schlag gegen Russland". Worte darüber, dass "jeder, der sich bewusst auf den Weg des Verrats begibt, der einen bewaffneten Angriff vorbereitet, der sich auf den Weg der Erpressung und terroristischer Methoden begibt, die unvermeidliche Strafe erleiden und sich sowohl vor dem Gesetz als auch vor unserem Volk verantworten wird". 

Der Befehl des Inlandsgeheimdienstes FSB, zunächst eine strafrechtliche Untersuchung einer militärischen Meuterei einzuleiten und den Fall dann einige Stunden später einzustellen, wird nicht vergessen werden – auch nicht vom FSB selbst.

Der russische Staat ist gescheitert

Unvergessen bleibt auch die Durchsuchungen in den Büros und Privaträumen der Wagner-Truppe, bei der 4 Milliarden Rubel in Bar (rund 43 Millionen Euro) und mehrere Pässe von Prigoschin gefunden wurden – alle auf seinen Namen ausgestellt, aber mit unterschiedlichen Fotos. 

Der Schrecken von Millionen Menschen vor möglichen Massakern wird unvergessen bleiben. 

Ebenso die kampflos aufgegebene Stadt Rostow, die Panik in der Hauptstadt – aber vor allen die beispiellose Hilflosigkeit jenes Mannes, der seit 23 Jahren vorgibt, Russland "Stabilität" zu bescheren. 

Prigoschin hat am 24. Juni 2023 Russland und Putin den schwersten Schlag seit dem 24. Februar 2022 versetzt. Die ganze Welt sieht nun, was Putin aus dem Land gemacht hat: einen gescheiterten Staat.