Kampf ums Überleben Vor Bachmut blutet die Wagner-Truppe aus – wo Prigoschin nun neue Soldaten finden will

Chef der Wagner-Truppe Jewgeni Prigoschin im Kriegsgebiet in der Ukraine
Chef der Wagner-Truppe Jewgeni Prigoschin im Kriegsgebiet in der Ukraine
© Konkord Company Press Service/TASS PUBLICATION / Imago Images
An die 40.000 russische Sträflinge soll Jewgeni Prigoschin für seine Wagner-Truppe angeworben haben. Als Kanonenfutter warf er sie an die Front. Doch diese Quelle ist versiegt. Prigoschin darf nicht mehr in Gefängnissen rekrutieren. Nun versucht er eine neue Strategie, um die Reihen seiner Truppe aufzufüllen. 

Die Verteidiger der ostukrainischen Stadt Bachmut stemmen sich den anstürmenden Kämpfern der russischen Söldnertruppe Wagner weiter entgegen. Die Schlacht um die Stadt entwickelt sich zu der blutigsten in diesem Krieg. 

Seit dem Spätsommer toben die Kämpfe um Bachmut. Es geht um jeden Meter. Die Stadt ist Hauptteil der ukrainischen Verteidigungslinie im Donezker Gebiet. Sollte Russland die Stadt erobern, wäre den Truppen der Weg zu den Großstädten Slowjansk und Kramatorsk geöffnet. 

Sturmgruppen der Wagner-Truppe greifen aus mehreren Richtungen an und versuchen, die Verteidigung zu durchbrechen, um ins Stadtzentrum vorzudringen. Doch die Söldnertruppe von Jewgeni Prigoschin blutet vor Bachmut aus. Und Nachschub bleibt aus. Fast jeden Tag meldet sich Prigoschin aus dem Kampfgebiet – klagt über verheerenden Munitionshunger, macht das russische Verteidigungsministerium für schwere Verluste innerhalb seiner Truppe verantwortlich.

Machtkampf mit Verteidigungsministerium spitzt sich zu 

"Damit ich nicht mehr um Munition bitte, wurden alle meine Sonder-Telefonverbindungen zu allen Büros aller Abteilungen gekappt. Außerdem wurden alle Passierscheine in alle Behörden, die Entscheidungen treffen, gecancelt", klagte Prigoschin in einer Audiobotschaft über seinen Pressedienst. Ein konkretes Ministerium nannte er nicht, um niemanden zu "diskreditieren". Doch es ist klar: Gemeint ist das russische Verteidigungsministerium, mit dem Prigoschin seit Monaten einen erbitterten Machtkampf führt.

Dieser Kampf könnte für den Anführer der Wagner-Söldner bald verloren gehen. In einem Video von der Front sprach Prigoschin sogar davon, dass die Einnahme von Bachmut der letzte Akt seiner Truppe sein könnte. "Viele Dinge sind nicht ewig", erklärte der Mann, der lange als "Putins Koch" bekannt war. Er erinnerte an das Schicksal der 300 Spartaner, die gefallen sind, aber auf ewig in der Erinnerung der Menschen weiterleben. "So kann es auch mit der Söldnertruppe Wagner geschehen." Bachmut werde man aber einnehmen, versicherte Prigoschin.

Sein Versprechen gilt keinem anderen als Wladimir Putin. Um es halten zu können, versucht Prigoschin nun neue Quellen anzuzapfen, um die Reihen seiner Truppe aufzufüllen. Nachdem das Verteidigungsministerium Prigoschin die Möglichkeit genommen hat, Häftlinge zu rekrutieren, will der Wagner-Chef nun in Sportzentren neue Söldner anwerben. 

240.000 Rubel für ein halbes Jahr 

In den sozialen Netzwerken der Wagner-Truppe wurde eine Liste mit Einrichtungen in Dutzenden russischen Städten veröffentlicht, wo Freiwillige in den Dienst von Prigoschin treten können. "Wenn Sie Eier aus Stahl haben haben und bereit sind, loszufahren, dann melden Sie sich via Whatsapp oder Telegram", heißt es in dem Aufruf.

240.000 Rubel werden denjenigen versprochen, die einen Vertrag für ein halbes Jahr unterzeichnen. Umgerechnet sind es nach aktuellem Kurs fast 3000 Euro – eine Summe, von der viele Russen nur träumen können. 

Dass an die neuen Rekruten keinerlei Ansprüche gestellt werden, geht bereits aus der Anzeige hervor. Dort heißt es: Die Überprüfung der physischen Vorbereitung diene nur dazu, "ganz Ungeeignete" rauszufiltern. Normative gebe es keine. 

"Ein Klimmzug, ein Liegestütz, ein kleiner Sprint"

Journalisten des unabhängigen russischen Senders Dozhd machten den Test und riefen bei einem der Sportzentren an. Ans Telefon ging eine Vertreterin der Wagner-Truppe. Sie versicherte: Absolut jeder könne einen Vertrag unterschreiben. "Wir füllen direkt die Formulare aus, dann geht es sofort zur physischen Vorbereitung. Innerhalb von einem oder zwei Tagen werden die Anträge überprüft und in 98 Prozent der Fälle angenommen. Ich bekomme dann Bescheid und kaufe Ihnen ein Ticket", erklärte die Frau den Vorgang.

Dass vielmehr die politische Gesinnung überprüft wird als der gesundheitliche Zustand, zeigte ein Besuch in einem Sportzentrum in Sankt Petersburg, einem gewöhnlichen Sport-Club in einem der unzähligen Hochhäuser der Metropole. "Ein Klimmzug, ein Liegestütz, ein kleiner Sprint", so sehe der Sport-Check aus, erklärte ein Wagner-Vertreter den verdeckten Reportern von Dozhd. 

"Eine medizinische Untersuchung wird es nicht geben", bestätigte auch die Gesprächspartnerin am Telefon. "Die Bescheinigungen wurden abgeschafft. Sie füllen selbst ein Formular aus und geben Auskunft über ihren Gesundheitszustand." 

Inzwischen ist die Personalnot der Wagner-Truppe so groß, dass auch Männer mit psychischen Vorerkrankungen angeworben werden. Dies stellten Journalisten der "Moscow Times" fest, als sie sich bei der Wagner-Hotline meldeten und sich als Interessenten ausgaben.

"Alles hängt von Putin ab"

Der Militärbeobachter David Scharp glaubt jedoch nicht daran, dass die neue Taktik der Anwerbung Erfolge zeigen wird. "Angesichts der durchgeführten Mobilisierung ist das Potenzial, Freiwillige anzuwerben, nicht groß", sagte der Analyst im Gespräch mit dem US-amerikanischen russischsprachigen Fernsehnachrichtensender Current Time. "Einige Rekruten werden sich sicherlich finden – aus finanzieller Not oder ideologischen Überzeugungen. Aber ihre Zahl wird verschwindend gering sein." Einen Grund, warum Sportler oder andere Zivilisten sich massenweise in die Reihen der Wagner-Söldner eintragen ließen, sieht Scharp momentan nicht.

"Tatsächlich hängt alles vom Kreml ab", sagt der Militärexperte. "Wenn der Kreml Prigoschin einen Blankoscheck ausstellt und ihm hilft, seine Ressourcen aufzustocken, dann wird er diese Möglichkeiten haben. Das könnte auch die Erlaubnis sein, wieder Häftlinge anzuwerben. Doch wenn der Kreml entscheidet, dass Prigoschin und die Wagner-Truppe ihr Potenzial vollständig oder auch teilweise ausgeschöpft haben, dann wird man ihn vollends beseitigen". Derzeit sehe es danach aus, dass der Kreml genau zu dieser Schlussfolgerung gelangt sei. "Alles hängt schlussendlich von Putin ab."

Sollte Prigoschin tatsächlich von der Bühne des Kriegsgeschehens entfernt werden, könnte er aber mit einem Knall gehen: der Einnahme von Bachmut. So könnte er allen Widersachern zeigen, wozu er im Stande ist. "Er will als Sieger aussehen – sowohl im Machtkampf mit Schoigu als auch im Kampf mit seinen Kriegsgegnern. Es geht um sein Ego", sagt Scharp. 

"Eliminierung der Wagner-Truppen"

Die Einschätzung von Scharp teilt auch die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW). Das russische Verteidigungsministerium "periodisiere derzeit die Eliminierung der Wagner-Truppen auf den Schlachtfeldern in Bachmut", heißt es in einem Bericht vom 12. März. Der Wagner-Kreml-Konflikt könnte somit das Vormarschtempo in der Region verlangsamen.

Die US-Experten nehmen an, dass das Ministerium von Sergej Schoigu gezielt die Gelegenheit nutzt, die Wagner-Söldner in den Kampf um Bachmut zu werfen. Dem ISW zufolge werde das Ziel verfolgt, "Prigoschin zu schwächen und seine Ambitionen auf größeren Einfluss im Kreml scheitern zu lassen". Die Wagner-Truppe soll ausbluten. 

Russische Staatsunternehmen wollen nun eigene Söldnertruppen aufstellen. Prigoschin weiß, gegen wen das Schwert gerichtet ist – und wessen Truppe sie ersetzen würden. Hysterisch wirft er sich gegen jeden, auch gegen Putin. Im Februar erklärte er, einige seiner Männer seien an "Granaten-Hunger" gestorben und rief die russische Bevölkerung indirekt zu Protesten auf. Im Kreml dürften solche Aufrufe auf wenig Freude stoßen. 

Nun stellt sich nach Ansicht des Innsbrucker Politologen und Russland-Kenners Gerhard Mangott die Frage: "Will Prigoschin mit Anlauf aus einem Fenster fallen oder ist Putin zu schwach, um ihn in die Schranken zu weisen?"