Das Drama von Brjansk nahm am Donnerstagvormittag um 11.29 Uhr Ortszeit seinen Lauf. Zu diesem Zeitpunkt verkündete der Gouverneur der russischen Region an der ukrainischen Grenze: "Heute ist aus der Ukraine eine Sabotagegruppe in das Dorf Liubechane im Bezirk Klimowsky vorgedrungen. Die Saboteure schossen auf ein fahrendes Auto. Infolge des Beschusses wurde ein Bewohner getötet, ein zehnjähriges Kind verletzt. Das Kind wurde ins Krankenhaus gebracht, es erhält alle notwendige Hilfe. Die Streitkräfte der Russischen Föderation ergreifen alle notwendigen Maßnahmen, um die Sabotagegruppe zu liquidieren", schrieb Alexander Bogomaz auf seinem Telegram-Kanal.
Zur gleichen Zeit habe eine Drohne einen Angriff auf das Dorf Suschane verübt. Beide Dörfer liegen knapp 20 Kilometer auseinander.
Russische Staatsmedien griffen die Mitteilung umgehend auf. 40 bis 50 Saboteure hätten Geiseln genommen, hieß es. In der Region Brjansk seien Kämpfer der russischen Garde mit ukrainischen Saboteuren zusammengestoßen, unter den Anwohnern gebe es Tote und Verwundete, meldete die Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf eine Quelle in den Strafverfolgungsbehörden. "Gruppen ukrainischer Saboteure drangen in zwei Dörfer ein und nahmen in einem von ihnen Anwohner als Geiseln", hieß es in dem Bericht. Gleichzeitig erklärte die Regionalverwaltung, sie könne weder die Zahl der Saboteure noch eine Geiselnahme bestätigen.
Widerspruch auf Widerspruch
Der Telegram-Kanal Mash berichtete unter Berufung auf den Gouverneur der Region Brjansk, ein Schulbus sei unter Beschuss genommen worden. Sein Fahrer sei tot. Dabei sprach ebendieser Gouverneur in seiner ersten Mitteilung von einem Auto, das beschossen worden sei.
Die kremltreue Publikation "Ridowka" schrieb unterdessen, dass ukrainische Saboteure Kinder als Geiseln genommen hätten. Sie hätten "gleichzeitig im Dorf Suschany mehrere Wohngebäude besetzt. In diesen Gebäuden halten sie die Geiseln. Sicherheitskräfte aus der Region Brjansk haben den mutmaßlichen Ort, an dem die Bewohner festgehalten werden, bereits abgesperrt", behauptete "Ridowka".
Im Dorf Liubechane hätten die Saboteure einen Sanitäter gefangen genommen und seien mit ihm in unbekannte Richtung verschwunden. In einem weiteren Bericht hieß es: "Die Militanten haben einen Zivilisten getötet und ein Mädchen verwundet, das später im Krankenhaus starb."
Auch von dem beschossenen Bus war die Rede. Der Bericht wurde um 12.09 Uhr Ortszeit publiziert. Zu einem Zeitpunkt, als nicht einmal der FSB sich zu der Angelegenheit geäußert hatte. In den Kommentaren merkten Einwohner umgehend an, dass alle Schulkinder derzeit Fernunterricht haben. Außerdem gebe in dem Dorf gar keinen Schulbus, wunderten sich einige.
Propaganda springt eine Stunde nach erster Meldung an
Ein erstes Statement des russischen Geheimdienstes folgte eine halbe Stunde später. "Im Bezirk Klimowsky des Gebiets Brjansk ergreifen der russische FSB und die dem russischen Verteidigungsministerium unterstellten Kräfte Maßnahmen zur Vernichtung bewaffneter ukrainischer Nationalisten, die die Staatsgrenze verletzt haben", hieß es sehr vage. Kein Wort von einem Schulbus, kein Wort von Geiseln.
Zur selben Zeit sprach die Propagandistin Olga Skabjewa in ihrer Sendung "60 Minuten" davon, dass das russische Militär auf dem gesamten Gebiet des Dorfes Suschane operiere. Wobei sie nicht erwähnte, dass die Siedlung gerade mal um die 180 Seelen zählt. Geiseln gebe es jedoch keine, betonte Skabejewa. "Die Terroristen und ihre Häuser müssen umgehend vernichtet werden", forderte sie. "Es steht fest, dass eine ukrainische Terrororganisation auf das Territorium der Russischen Föderation gelangt ist", postulierte sie. "Es wurden Zivilisten attackiert. Es wurden zivile Häuser attackiert. Es wurden zwei zivile Häuser gesprengt. Ein Schulbus wurde beschossen. Ein Kind wurde verletzt. Ein zehnjähriges Mädchen wurde ins Krankenhaus gebracht." Die Information, dass es in der Ortschaft gar keinen Schulbus gibt, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht bis Skabejewa durchgedrungen.
Einer ihrer Studiogäste wagte die Schlussfolgerung: "Es ist offensichtlich, dass Russland in die Notwendigkeit gedrängt wird, Atomwaffen einzusetzen."
Vokabular abgeglichen
Doch bemerkenswerter als die Atom-Keule war das Vokabular von Skabejewa. Von Terror sprach kurze Zeit später kein geringerer als Wladimir Putin. Er unterbrach eine virtuelle Videoschalte anlässlich der Eröffnungszeremonie das "Jahres des Lehrers und Mentors", um sich zu der Situation zu äußern. An sich ein erstaunlicher Akt, lässt sich doch der Kreml-Chef nie zu spontanen Statements hinreißen.
Die Ereignisse in Brjansk seien "ein weiterer Terrorakt", erklärte Putin. "Sie drangen ins Grenzgebiet vor, wo sie das Feuer auf Zivilisten eröffneten. Sie sahen, dass es sich um ein ziviles Auto handelte. Sie sahen, dass dort Zivilisten und Kinder saßen." Eine geplante Reise in das südrussische Stawropol hatte Putin zuvor seinem Sprecher zufolge abgesagt.
Zu diesem Zeitpunkt gibt es keine Aufnahmen vom Ort des angeblichen Geschehens. Alle Informationen stammen ausschließlich von russischen Sicherheitsbehörden und staatlichen Medien. In einer zweiten Erklärung teilte der FSB mit, dass nach einer Razzia eine große Anzahl von Sprengkörpern verschiedener Art gefunden worden seien. Am Abend hieße es, ein "Vorstoß der ukrainischen Nationalisten" sei vereitelt worden. "Der Feind ist auf ukrainisches Territorium zurückgedrängt, wo er mit einem massiven Artillerieschlag getroffen wurde."
Russischer Rechtsextremist bekennt sich zu der Aktion
Kaum hatte Putin jedoch "Terroristen" für die Sabotageaktionen verantwortlich gemacht, übernahm das sogenannte "Russische Freiwilligenkorps" die Verantwortung für das Geschehen. Die Gruppierung lieferte das erste und bislang einzigen Zeugnis einer Aktion auf russischem Staatsgebiet – unabhängig davon, um welche Art von Aktion es sich dabei handelt. Ein Video zeigt zwei schwer bewaffnete Männer vor dem Eingang der Sanitätsstation im Dorf Liubechane. Als Beweis klopft einer von ihnen auf das Metallschild hinter sich. "Wir haben die Staatsgrenze Russlands überschritten", erklärte er. "Wir kämpfen nicht mit Zivilisten, töten niemanden, der waffenlos ist. Jetzt ist es Zeit für die einfachen Bürger Russlands zu begreifen, dass sie keine Sklaven sind."
Wer ist Denis Kapustin?
Schnell wird der Sprecher als Denis Kapustin alias Nikitin identifiziert. Der bekannte russische Rechtsextremist zog 2001 mit seiner Familie von Russland nach Deutschland ein – als jüdischer Kontingentflüchtling. Hier stieg er schnell zu einer Führungsfigur der rechtsextremen Kampfsportszene auf. Seit 2017 soll Kapustin in der Ukraine leben. Deutschland wies ihn 2019 aus. Das sogenannte "Russische Freiwilligenkorps" rief er wohl im Sommer 2022 ins Leben.
Offiziell gehört das Freiwilligenkorps nicht zur ukrainischen Armee oder Nationalgarde. "Unser Status nähert sich einem legalen an", erklärte ein Mitglied der Organisation in einem Interview. Sie seien Söldner. "Die meisten von uns haben gar keine Dokumente."
"Wir sind keine Bürger der Ukraine. Wir müssen nicht kämpfen", hatte Kapustin selbst in einem Interview erklärt. "Wir könnten wegfahren. Finanziell wäre das kein Problem. Aber wir haben verstanden: Unsere Zeit ist gekommen." In wessen Interesse Kapustin kämpft, ist aber offen.
Ein Held Namens Fjodr
Bemerkenswert aber ist, dass Kapustin bislang nicht in den russischen Staatsmedien figuriert. Innerhalb weniger Stunden hatte die Propaganda hingegen ihren eigenen Helden: den Jungen Fjodr.
Seine Bekannte Irina erzählte seine Geschichte so: "Fjodr kam zu uns, dieser Junge, und zwei Mädchen. Der Junge war verletzt. Ich habe sie ins Haus geholt und gefragt, was passiert ist. Fjodr antwortete: 'Wir wurden beschossen'. (...) Der Fahrer wurde getötet. Aber er holte diese Mädchen heraus. Er hat sie nicht zurückgelassen, hat nicht die Nerven verloren. Er ist zu uns gelaufen. Irgendwann hat ein Auto sie eingesammelt und er bat darum, zu uns gefahren zu werden. So ein schlauer Junge! Das Kind ist erst zehn Jahre alt. Von Liubechane bis zu uns in Nowaj Ropsk sind es zwei Kilometer. Obwohl er verletzt war, zog er die beiden Mädchen mit sich. Die Mädchen sind Erstklässlerinnen, an die sieben Jahre alt."
Fjodr soll das Kind sein, das bei dem Beschuss eines Autos verletzt worden ist. Von dem verletzten oder getöteten Mädchen ist keine Rede mehr. Auch der Schulbus ist aus den Propaganda-Sendungen verschwunden. Der Gouverneur von Brjansk schrieb auf Telegram: "Dank der Professionalität unserer Ärzte war die Operation des jungen Helden Fjodr erfolgreich. Die Ärzte entfernten eine Kugel, die aus einer Nato-Waffe abgefeuert wurde."
Das Konstrukt "der Junge Fjodr"
Auch Skabejewa war es besonders wichtig zu betonen, dass der Held Fjodr durch eine Nato-Waffe verwundet worden sei. In ihrer Sendung am Freitagmorgen präsentierte sie das alte Auto, in dem Fjodr unterwegs gewesen sein soll und das unter Beschuss genommen worden sei. "Zwei ältere Brüder des Jungen dienen derzeit im Gebiet der Sonderoperation", wusste die Propagandistin von einem seltsamen Zufall zu berichten. "Jetzt scherzt man in der Familie, dass Fedja früher einen Orden bekommt als seine Brüder."
Dabei benutze Skabejewa erstaunlicherweise als eine der wenigen die Abkürzung des Namens Fjodr: Fedja. Kinder werden in Russland stets mit den Abkürzungen ihrer Namen angesprochen und benannt. Das Konstrukt "der Junge Fjodr" ist für das Russische sehr untypisch – und sieht verdächtig nach einem konstruierten Gebilde aus.

False-Flag-Aktion in Brjansk oder Opportunismus?
Am Freitagmorgen präsentierte der FSB der Öffentlichkeit Aufnahmen des Autos, in dem der Junge verletzt worden sein soll. Auf dem Fahrersitz demonstrierte man eine Männerleiche. Sonst nichts.
Was ist also im Donnerstag in den zwei Dörfern vorgefallen? Eine False-Flag-Aktion, die aus Moskau aus orchestriert wurde, um eine Gegenreaktion zu begründen? Eine für den Kreml typische Strategie. Oder eine militante Gruppierung, die auf eigene Faust handelt und deren Aktion für die Propaganda schnell im eigenen Interesse umgemünzt wird?
Alles, was bislang von keiner Seite bestritten wird, ist: Eine Gruppe von Saboteuren gelangte auf das Gebiet der Russischen Föderation, konnte sich unbehelligt dort mehrere Stunden aufhalten und dann wieder verschwinden.
"Da gibt es keinen einzigen Soldaten, nichts"
Zwei Einwohner der Dörfer, in denen sich alles abgespielt hat, bezeugen ebendieses Szenario. Eine Frau berichtete in einem Gespräch mit dem unabhängigen Sender Dozhd: "Bei uns fing alles gegen 8.45 Uhr morgens an. Mittags waren sie noch hier. Dann sind sie in die Ukraine gegangen." Russische Streitkräfte seien erst gegen 16:30 Uhr aufgetaucht, beteuerte die ältere Dame. "Wir haben den ganzen Tag auf sie gewartet." Tote habe sie keine gesehen. Ein Haus sei niedergebrannt, eine Gasleitung und ein Wasserturm gesprengt worden.

Ihre Aussage bestätigte ein Mann aus dem Dorf Klimowo. "Sie sind die Straße langgelaufen, haben ein Haus angezündet, das meiner ehemaligen Klassenkameradin gehörte. Dann haben sie einen Wasserturm und eine Gasleitung in die Luft gejagt. Es gibt kein Wasser. Unsere Regierung hat diese Dörfer völlig schutzlos gelassen. Sie sind überhaupt nicht geschützt. Das ist doch der Punkt. Da gibt es keinen einzigen Soldaten, nichts."
Horrorszenario für Russland
Wie konnte es also dazu kommen? Wie man es dreht und wendet: Russland steht als verwundbar dar. Aber genau dies könnte das Ziel sein. Der Krieg soll sich im Alltag der Russen wiederfinden. Die Gefahr soll für jeden real werden. Eine Strategie, mit der der Kreml seinen Untertanen den Krieg weiter als eine Notwendigkeit verkaufen will. In den letzten Wochen haben sich Putin und seine Propagandisten dem Heraufbeschwören eines Untergangsszenarios gewidmet, das Russland erwartet, sollte der Krieg verloren werden. Nun wird den Russen eindrücklich vorgeführt, wie verwundbar ihr Land ist. Eine Bühne, die Putin für eine weitere Radikalisierung seiner Politik nutzen könnte – etwa dem Verhängen des Kriegsrechts.