Propaganda-Arsenal Kreml führt zwei Geheimwaffen ins Feld – Hellseher und einen alten Bekannten

Andrej Malachow lässt in seinem Studio die Karten legen. In Russland spannt die Propaganda auch Hellseher für ihre Zwecke ein.  
Andrej Malachow lässt in seinem Studio die Karten legen. In Russland spannt die Propaganda auch Hellseher für ihre Zwecke ein.  
© Screenshot Rossija 1
Im Kampf um die Köpfe Russlands setzt die Kreml-Propaganda neuerdings verstärkt auf übernatürliche Kräfte: Wahrsager, Kartenleser, Astrologen. Um ihnen allen eine Bühne zu bieten, lässt man ein altbekanntes Gesicht auf die TV-Bildschirme zurückkehren. 

Als Wladimir Putin am 24. Februar seinen Angriff auf die Ukraine begann, ging das russische Staatsfernsehen in den Kriegsmodus über. Alle Unterhaltungs-Shows wurden abgesetzt. Von nun an peitschen nur noch Propagandisten aus der Liga von Wladimir Solowjow, Olga Skabejewa oder Dmitri Kisseljow dem Publikum ein. Stunden um Stunden spucken sie jeden Tag über alle Kanäle Galle und Hass. Die Show von Skabejewa und ihres Ehemanns Jewgeni Popow, die den Titel "60 Minuten" trägt, wurde auf fünf Stunden pro Tag aufgeblasen – mindestens.

Doch nach zehn Monaten Krieg können auch die blutrünstigsten und verrücktesten Tiraden der schärfsten Hetzer das Publikum nicht mehr vor den Fernsehbildschirmen festnageln. Die Quoten der Polit-Talkshows befinden sich im freien Fall. Also holt die Propaganda eine altbewährte Waffe zurück: Andrej Malachow. 

Der Show-Master ist eins der prominentesten Gesichter der russischen TV-Landschaft. Der Liebling des Publikums moderierte in seiner 30-jährigen Karriere Quoten-Hits wie "Dancing with the Stars" oder die Trash-Talkshow "Lasst sie reden!", bei der sich die Gäste in regelmäßigen Abständen die Köpfe einschlugen – im übertragenen und wörtlichen Sinne. Seit 2018 übernahm Malachow außerdem das Heiligtum unter den Sendungen des russischen TVs: die Silvester-Sendung "Blaues Licht", das in Russland zum Pflichtprogramm an jedem 31. Dezember gehört.

Der Krieg schickte Malachow jedoch in eine Zwangspause. Seine Talkshow auf dem Sender Rossija 1 wurde eingestellt. Ende September durfte er zurückkehren. "Malachow" heißt seine neue Sendung, für die man zwischen den Ausgaben von "60 Minuten" und den stundenlangen Nachrichten tatsächlich 60 Minuten gefunden hat. 

Das übernatürliche Arsenal des Kremls 

Wer aber glaubt, es könnte sich ein leichtes Format zwischen all die Propaganda geschlichen haben, wird eines Besseren belehrt. Seine Karriere hat Malachow nicht zuletzt seiner absoluten Kreml-Treue zu verdanken. Der Talk-Master hat es bislang geschafft, zwischen jede Prügelei in seinem Studio das Narrativ des Kremls einzuweben. Geschah das früher mehr oder weniger elegant in Nebensätzen, fährt Malachow nun das ganze Arsenal der Kreml-Propaganda auf. 

Mal erzählt er die frei erfundene Geschichte der Kämpfer des Bataillons BARS-13, die "unter dem Einsatz ihres Lebens" Menschen in ukrainischen Dörfern rund um Isjum gerettet haben wollen – jenen Dörfern, in die sie als Besatzer kamen. Mal erzählt er die "Heldinnen-Geschichten" der Ehefrauen russischer Militärs. Mal berichtet er von "tapferen Taten" zurückgekehrter Veteranen der sogenannten "militärischen Sonderoperation", wie der Krieg im offiziellen Vokabular des Kremls nach wie vor heißt. 

Doch es ist eine ganz spezielle Welt, der Malachow besonders viel Aufmerksamkeit widmet: der Welt der Hellseher und Mentalisten. Im Kampf um die Köpfe der Zuschauer, spannt die Propaganda bereits seit Jahren das Übernatürliche ein. Doch nun kehrt offenbar die Geheimwaffe Malachow auf die Fernsehbildschirme zurück, um dieses Feld systematisch zu beackern.

Die "unglaubliche Präzision" der Propaganda

Gleich fünf Sendungen innerhalb weniger Wochen widmete er Wahrsagern, Numerologen, Astrologen, Kartenlesern, KGB-Hellsehern und allen, die für sich einen Draht in eine andere Welt beanspruchen. Jene Menschen, die gestern dem Durchschnittsverbraucher noch auf Litfasssäulen versprachen, den "bösen Blick" abzuwenden, dürfen nun in seinem Studio Platz als "führende Experten" nehmen.

"Diese Menschen versichern, dass sie wissen, was uns erwartet. Auf ihre Vorhersagen hören die einflussreichsten Politiker, Geschäftsmänner und Weltstars", fing Malachow eine solche Sendung an. Sonderbarerweise begleiteten nur Bilder abgehalfterter russischer Sternchen seine Worte. Aber der Einstieg war erst der Anfang all der Absurditäten. "Ihre Vorhersagen treffen mit erschreckender Genauigkeit ein. Sie sehen die Zukunft. Bei ihnen stehen die Menschen Schlange, um Antworten auf die wichtigsten Fragen zu bekommen." 

Sie hätten die Corona-Pandemie vorhergesagt und den "bewaffneten Konflikt an der Grenze Russlands", erklärte Malachow und meinte damit die Invasion der Ukraine. Als erstes bat er eine Frau ins Studio, die als Swetlana Dragan vorgestellt wurde. Sie habe mit "erstaunlicher Präzision" geopolitische Entwicklungen vorhergesagt, kündigte Malachow sie an. Wie die "unglaubliche Präzision" der Kreml-Propagandisten aussieht, bekamen die Zuschauer gleich demonstriert. Eingespielt wurden Videoaufnahmen ungewissen Ursprungs und Datums, auf denen die wasserstoffblondierte Astrologin erzählt, dass "buchstäblich Anfang Januar irgendwelche Territorien uns näherkommen. Eine gewisse Erweiterung unseres Raumes", will sie prophezeit haben.

Malachow datierte die sogenannte Vorhersage auf den 30. Oktober 2021. Wer könnte schon sagen, ob die Aufnahme aber nicht ein paar Stunden vor der Aufzeichnung der Sendung in den Fernsehstudios Moskaus entstanden ist? Die Zuschauer müssen Malachow da schon aufs Wort glauben.

Januar auf Oktober verlegt 

Aber das Interessanteste folgte noch. Denn der Vorhersage von Dragan folgten sofort Aufnahmen, die das Eintreten dieser Prophezeiung belegen sollten: Die Zuschauer bekamen einen Putin zu sehen, der im Kreml Dekrete zur Annektierung ukrainischer Gebiete unterzeichnet. "Und wirklich, ein Jahr nach diesen Worten, am 5. Oktober 2022, wurde eine Reihe von Gesetzen zur Aufnahme der Volksrepubliken von Donezk und Luhansk sowie den Regionen von Cherson und Saporischschja unterzeichnet", hieß es bedeutungsschwanger zu diesen Bildern aus dem Off. 

In nur zwei Sätzen schafft es die Propaganda, den Januar auf den Oktober zu verlegen und die "erschreckend präzise" Vorhersage für wahr zu erklären. Sogar bei der ein oder anderen Dame im bezahlten und geprüften Publikum im Studio gingen die Augenbrauen da skeptisch nach oben. 

Eine Prognose für die Zukunft wagte Dragan aber trotzdem. "Der Dezember wird schwierig", weissagte die Astrologin. Aber im März werde der "große Umbruch kommen, in Russland, in Amerika und überall in der Welt. Das wird der Start globaler Veränderungen, die uns ins Staunen versetzen werden. Und wir werden das momentane Geschehen in ferner Vergangenheit glauben." 

Die Veränderungen würden nicht zu Gunsten der "sogenannten westlichen Welt" ausfallen, konkretisierte Dragan. Ab dem 23. März werde man eine Spaltung Amerikas beobachten, und im Herbst werde der Dollar endgültig seine Dominanz verlieren. Russland prophezeite sie hingegen einen "vertikalen Aufstieg".

Finde den Fehler! 

Als nächsten Gast präsentierte Malachow einen Mann namens Russlan Raschojew, der bereits vor fünf Jahren von einer Apokalypse am 22. Februar 2022 gesprochen haben will. "Ich habe die Zahl 2012, von der unsere Vorfahren erzählt haben, in die Zahl 2022 verwandelt", erklärte er vor dem Hintergrund einer orthodoxen Kirche.

Die Szenerie schreit danach, das Spiel "Finde den Fehler" zu starten. 1. Die orthodoxe Kirche lehnt jede Form von Weissagung als Werk des Satans ab. 2. Von der Apokalypse zu sprechen, kommt einer Gotteslästerung gleich. 3. Die Mayas, deren berühmter Kalender im Jahr 2012 endete, sind kaum die Vorfahren der Bevölkerung des heutigen Russlands. 

Doch was kümmern all diese Fehler die Propaganda, wenn der Numerologe einen Regierungswechsel in der Ukraine prophezeit – und zwar bis 2025. Dann wäre auch ein Frieden möglich. Doch dann ging es mit ihm durch: "Die militärische Sonderoperation ist eine Manipulation des Westens, der Nato-Staaten und natürlich der USA", erklärte er im Studio von Malachow. Die Nato hat also Putin zu einem Krieg manipuliert? Nicht gerade schmeichelhaft für den Kreml-Chef, der sich als genialer Geostratege versteht. 

Seinen Fehler überspielte Raschojew schnell mit der Prognose: "Die Nato wird bis 2030 zerfallen! Nein, nicht zerfallen. Aber sie wird kein so großes Gewicht auf der internationalen Bühne mehr haben", korrigierte er sich schnell. "Der Zerfall wird im Frühling einsetzen", versuchte die Astrologin Dragan die Situation zu retten. 

Kartenleserin redet sich um Kopf und Kragen 

Doch die nächste Frau im Studio redete sich beinahe um Kopf und Kragen. Die Kartenlegerin Aida Marteresjan prophezeite Russland: "Ab dem 15. März geht alles den Berg runter. Ganz langsam." Für den Dezember sehe sie die Karte der "Annullierung". "Diese Karte annulliert alles und setzt eine Frist. Das Jahr 2024 wird der Schlusspunkt, das Ende sein." 

An dieser Stelle verpasste aber wohl jemand der Wahrsagerin einen leichten Tritt und sie wechselte ihr Lied: "Wenn wir um großen Maßstab über Russland sprechen, dann wird es hier eine Erweiterung der Grenzen sein. Nicht nur dort, wo es momentan kriegerische Handlungen gibt, sondern auch dort, wo aktuell noch gar keine Rede davon gibt. (...) Das wird ein Sieg sein – zu dem wir uns sehr langsam und lange bewegen, aber am Ende genau jenen langersehnten Sieg erringen."

"Russland wird zu einem der sichersten Orte der Welt"

Neben dem Zerfall der Nato und dem Sieg Russlands – wobei sich die Frage stellt, was für einen Sieg Russland überhaupt erringen will – prophezeiten alle versammelten Hellseher Naturkatastrophen. Aber sie alle würden nicht die Russische Föderation treffen. "Russland wird zu einem der sichersten Orte der Welt", verkündete der Numerologe Raschojew. "Insbesondere der Norden Russlands." Die USA würden hingegen von Katastrophen heimgesucht werden. "Es wird eine riesige Migrationswelle geben", prophezeite eine weitere Astrologin, die als Wera Chubelaschwillli vorgestellt wird. 

Sie verkündete wohl die wichtigste aller Prognosen: Die Ukraine werde ganz bestimmt aufhören zu existieren. Der westliche Teil des Landes werde an Polen gehen und der östliche an Russland. "Die Ukraine wird in der Form, wie wir sie aus den vergangenen 30 Jahren kennen, nicht mehr existieren. (...) Selenskyj wird der letzte Präsident dieses Landes sein", verkündete sie.

Was für ein Zufall, dass die Prognosen der Gäste bei Malachow eins zu eins mit dem Kreml-Narrativ übereinstimmen. Auch wenn der ein oder andere, wohl sein Handbuch nicht ganz auswendig lernen konnte. 

Russland und der Aberglaube 

Das Übernatürliche als Waffe entdeckte die Propaganda für sich nicht von ungefähr. Der Glaube an Hellseher und Wahrsager ist in der russischen Gesellschaft tief verwurzelt. In jedem noch so kleinen Dorf findet sich eine sogenannte "Babka" – meist eine ältere Frau, die Heilung durchs Handauflegen verspricht, den "bösen Blick" abwendet oder Liebesbeschwörungen spricht. 

Mehrmals hat die russische Duma Versuche gestartet, den übernatürlichen Betrügern das Handwerk zu legen. Erst Anfang Dezember wurde ein neuer Gesetzesvorschlag eingebracht. Doch alle Initiativen versandeten – während die Sendung "Kampf der Hellseher" in diesem Jahr in ihre 23. Saison gegangen ist und aktuell der absolute Quoten-Sieger ist. Wozu also etwas verbieten, was man für sich einspannen kann? Vorausgesetzt, die Hellseher prophezeien das, was der Kreml befiehlt. 

PRODUKTE & TIPPS

Kaufkosmos