Noch bevor Wladimir Putin den Krieg in der Ukraine begann, machte Liz Truss deutlich, wo sie steht. Ein Angriff auf die Ukraine bedeute einen "massiven strategischen Fehler", warnte die damalige britische Außenministerin den russischen Machthaber. "Der Kreml hat nicht aus der Geschichte gelernt." Eine Invasion werde zu einem furchtbaren Verlust von Leben führen, "wie wir es aus dem sowjetisch-afghanischen Krieg und dem Tschetschenienkonflikt kennen". Großbritannien und seine Verbündeten stünden fest an der Seite der Ukraine, versicherte Truss. Und sie ist bei dieser Haltung geblieben.
"Wir müssen bereit sein, die Ukraine auf lange Sicht zu unterstützen", erklärte die konservative Politikerin am vergangenen Freitag. Jetzt sei nicht die Zeit für Selbstzufriedenheit. Man müsse sicherstellen, dass die Ukraine den Krieg gewinnt und Russland sich zurückzieht. Gespräche über einen Waffenstillstand oder Zugeständnisse an Putin lehnt Truss rigoros ab.
Eine Haltung, mit der Truss im offiziellen Russland keine Freunde gewinnt. Und nun zieht ausgerechnet sie als Premierministerin in die Londoner Downing Street ein. Bei den Kreml-Propagandisten löst die Personalie Schnappatmung aus.
Mit Schaum vor dem Mund hetzen die willfährigen Helfer des Regimes gegen die neue Premierministerin. Den großen Auftakt legten am Montagnachmittag die Propagandisten der Sendung mit dem Titel "Die Zeit wird zeigen" hin. "Es ist kaum zu glauben, dass DAS da die Premierministerin des ehemaligen Großbritannien wird", läutet der Moderator Artjem Schejnin die Tirade gegen Truss ein. Auf seinem T-Shirt prangt das allgegenwärtige Z – das unfreiwillige Symbol von Putins Krieg.
"Die Dummheit hat gesiegt"
Was folgt ist die Legende, die der russischen Öffentlichkeit seit Monaten, wenn nicht Jahren, eingebläut wird. Eine geheime Organisation habe Truss an die Macht gebracht. Sie sei das personifizierte Symbol für den Untergang der westlichen Gesellschaft. Er müsse unweigerlich an "einen Affen mit Granaten" denken, wenn er sich Truss anschaut, erklärt der Moderator.
Das Geschlecht von Truss bietet ebenfalls einen Stein des Anstoßes. Sie sei eben nur nur zu dem fähig, wozu auch die beste "Pariser Dame" fähig wäre, posaunt einer der Studio-Gäste in Anspielung auf Prostituierte in der französischen Hauptstadt.
"Großbritannien liefert heute ein anschauliche Beispiel für die Realisierung der Dystopie von George Orwell '1984', wo das Unwissen einen Vorteil darstellt", setzt die Co-Moderatorin Olesja Lossewa hinzu. "Die Dummheit hat gesiegt: Liz Truss ist die neue Premierministerin. Wenn Boris Johnson den Brexit erreicht hat, so will Truss etwas ganz anderes erreichen: das Ende der Welt."
Die verbale Waffe des Kreml wieder im Einsatz
Am Abend legt der prominenteste Propagandist nach. In seiner allabendlichen Show auf dem Sender Rossija 1 tut Wladimir Solowjow das, was er am besten kann: Lügen verbreiten und Hass schüren. "Sie versammelt ein Kabinett, in dem kein einziger weißer Mann vertreten sein wird. Welch ein Glück!", wettert der Talk-Master hämisch. "Das heißt, dass niemanden die professionellen Eigenschaften jucken. Das einzige, was zählt ist, dass es keine weißen Typen gibt." Mit purem Sarkasmus geht es weiter: "Liz Truss ist kolossal populär. Eine fantastische Anzahl von Menschen hat für sie gestimmt. Das muss man sich einmal vorstellen. In einem Land mit 67 Millionen Einwohnern und 46 Millionen Wählern, haben für sie 81.326 Menschen gestimmt, dagegen 60.399." In Russland würden mit solchen Verhältnissen Abgeordnete für die Moskauer Stadt-Duma gewählt werden, spottet er. "So sieht die wahrhafte Demokratie aus." Die Briten selbst würden Truss verachten.
Tatsächlich hat Truss keine Mehrheit im Volk und auch keine in ihrer Fraktion. Sie vertritt die Interessen einer überschaubaren Minderheit der Briten. Doch was Solowjow ganz bewusst unter den Tisch fallen lässt: Der Aufstieg von Truss zur Premierministerin ist eine Folge ihrer Kür zur Parteichefin – und kein Ergebnis einer regelrechten Wahl.
Die vermeintliche Kabinett-Zusammensetzung ist frei erfunden. Zum einen: Das Kabinett steht zu diesem Zeitpunkt nicht fest. Zum anderen: Es sind durchaus viele weiße Männer als Kandidaten im Gespräch, etwa der aktuelle Verteidigungsminister Ben Wallace oder David George Hamilton Frost, ein Vertrauter von Boris Johnson. Und so enthüllt Solowjows Fantasie bloß seinen eigenen Chauvinismus, den er so furchtbar gerne anderen unterstellt.
Wenn Putin die Welt nicht genug ist

Verkehrte Welten
Aber das ist eher das Lieblingsspiel von Solowjow und seinen Kollegen. Im Russischen gibt es ein Sprichwort: Im Auge eines anderen sieht man einen Strohhalm, im eigenen bemerkt man nicht einmal einen Baumstamm. Der Sinn ist einfach. Während man bei anderen selbst den kleinsten Mangel sieht, bemerkt man bei sich selbst auch große Fehler nicht. Und so fährt Solowjow in seiner vor Gift triefenden Manier fort und kreidet ein "neues Spiel in der Welt" an.
"Alle beschuldigen sich, Faschisten zu sein. Biden nennt Trump einen Faschisten. Einer der Ideologen Trumps sagt, dass in Biden ein Mussolini aufgewacht ist und man ihn erwürgen muss." Aber das alles ist für Solowjow ohne Bedeutung. In Rage kommt er erst, wenn jemand Russen als Faschisten bezeichnet. Im nächsten Satz stürzt er sich auf einen spanischen Politiker, der in einem Interview gesagt hatte, dass man keinen Plan habe, wie man "das faschistische Russland und sein faschistisches Regime" besiegen könne.
"Er darf keinen Fuß mehr auf den geheiligten russischen Boden setzten", brüllt Solowjow voller Hass. "Seht euch diesen Anhänger Francos an! (...) Seht euch dieses geschwollene, abscheuliche Gesicht an!" In der Welt des Solowjow darf nur der Kreml überall Faschisten wittern. Seine Gäste schauen betreten zu Boden, während ihm der Speichel von den Lippen fliegt. Zu diesem Zeitpunkt dauert seine Abend-Show übrigens schon fast 20 Minuten. So sehen sie aus, die sogenannten Talk-Shows von Solowjow: unendliche Monologe aus Gebrüll und Hetze. Liz Truss wird hier noch die ein oder andere Ehrenrunde bekommen.
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