Die Laubbäume entlang der Alleen werfen in der Mittagssonne Schatten auf die Straße. Dichte Hecken trennen die Grundstücke mit herrschaftlichen Villen. Abgesehen von leisem Vogelgezwitscher ist es fast komplett still in Aumühle, einem 3.000-Einwohner-Dorf östlich von Hamburg. Aus einer Seitenstraße dringt fröhliches Gelächter. Hier leben Yulia, Iryna und Tanya seitdem sie aus der Ukraine geflüchtet sind. Der Kontrast zu ihrer Heimat könnte nicht größer sein. Von Donezk, wo die drei Mütter zuvor gelebt hatten, sind vielerorts nur noch Trümmer übrig.
Frauenhaus für Geflüchtete aus der Ukraine
Am Esstisch, der mitten im lichtdurchfluteten Wohnzimmer steht, sitzen neben den drei Ukrainerinnen noch Hausbesitzer Jörg Wisseling und Larissa Hellmund von der Initiative "Europate", einem Verein, der Schutzsuchende dabei unterstützt, in Deutschland ein neues Zuhause zu finden. Durch die Arbeit der freiwilligen Helfer ist das Heim von Jörg nach und nach zu einem Frauenhaus für geflüchtete Familien geworden. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee erfüllt den Raum und ein Teller mit Gebäck steht auf dem Tisch. Zwei Kinder springen durch das Zimmer und werfen sich ein Panda-Stofftier zu. Die Frauen und die Helfer unterhalten sich, teils auf Englisch, teils mit Hilfe einer Dolmetscherin, sonst hilft Gestik und Mimik.

Fast hat man den Eindruck, man sei bei einer lustigen, großen Patchwork-Familie zu Gast. Schon bevor sie in Deutschland zusammengelebt haben, sind die drei Ukrainerinnen befreundet gewesen. Inzwischen bezeichnen sie sich als "Family". Doch die ausgelassene Stimmung schlägt schnell um, wenn sie sich an die Flucht erinnern. "Tag und Nacht liefen die Sirenen", berichtet Yulia von den letzten Tagen in der Heimat. Sie streicht sich das blonde Haar aus dem Gesicht und hält sich mit den Händen die Ohren zu. Kurz bevor sie das Land verlassen hat, hätte sie immer mehr Bomben in ihrem Wohnort detonieren gehört. Mit den beiden Kindern und der Freundin Iryna, sowie deren zwei Kinder, floh die 30-Jährige.
Flucht vor den Bomben
"Als wir weggefahren sind, haben wir mitbekommen, wie direkt hinter uns die Straßen zerbombt worden sind", erzählt Iryna. Ihre Stimme überschlägt sich fast, als sie an die chaotische Abreise denkt. Am Bahnhof hätten sich bereits Tausende Flüchtlinge gedrängt und versucht, sich in die übervollen Züge zu quetschen. Manche haben ihr Gepäck am Gleis zurücklassen müssen, Eltern haben versucht, ihre Kinder in die Wagons zu drängen. Iryna hatte "einen Rucksack auf dem Rücken, eine Tasche in der einen, ein Kind an der anderen Hand und das zweite Kind auf die Brust geschnallt".
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Auch jetzt drückt sie ihre Jüngste, die zehn Monate alte Xenia, fest an sich und wiegt sie sanft. Aus großen, blauen Augen wirft das Baby allen Anwesenden abwechselnd neugierige Blicke zu. Vor wenigen Tagen habe Xenia ihre ersten Schritte gemacht, erzählt Larissa, die die Familien seit ihrer Ankunft betreut. "Unser Fokus liegt auf Frauen und Kindern, weil sie aus unserer Sicht besonders schutzbedürftig sind", erklärt die 29-Jährige. Dem Verein ist es wichtig, Geflüchteten eine Bleibe zu vermitteln, in der sie sich zurückziehen können. Denn überlaufene Erstaufnahmestellen böten nicht ausreichend Privatsphäre und Frieden. Mehr als hundert Personen haben die Freiwilligen seit Beginn des Krieges vermittelt.
"Dann ging alles Schlag auf Schlag"
Bis Iryna und Yulia endgültig in Sicherheit waren, dauerte es mehrere Tage. "Während wir durch die Ukraine gefahren sind, hätte jederzeit eine Rakete oder Bombe einschlagen können", sagt Yulia. Trotz der ständigen Angst haben die Frauen sich stark gefühlt. Achselzuckend sagt Iryna: "Ich weiß nicht, woher wir die Kraft genommen haben." Die Ankunft beschreibt Larissa als "kleines Drama". Ein Drama, über das inzwischen alle lachen können. Yulia erinnert sich: "Wir waren erschöpft von der Reise, müde und verängstigt." Sie nickt in Richtung ihrer beiden Kinder, die auf einem mit Heißluftballons bedruckten Teppich sitzen und auf dem Handy ihrer Mutter herumtippen. Die Kinder seien sehr krank gewesen "und wir haben nicht gewusst, was mit uns passieren wird." Zusätzlich haben sie immer mehr Horror-Geschichte von Geflüchteten gehört, die in den Fängen von Menschenhändlern landen.

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In Aumühle hatte man kaum Zeit, sich auf die Ankunft vorzubereiten. "Vieles hier ist noch in Arbeit", sagt Hausbesitzer Jörg. Der 42-Jährige lebt eigentlich allein mit seinem Sohn in dem einstöckigen Wohnhaus. Der Hamburger hatte gerade mit dem Umbau seines Heimes begonnen, als der Krieg plötzlich Millionen Menschen zur Flucht zwang. "Ich konnte das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, dass Hunderte Menschen auf engstem Raum in einer Zeltstadt schlafen müssen, während ich so viel Platz habe." Sein Haus ist geräumig, verfügt über mehrere Zimmer und einen Keller. Jörg wollte Hilfe anbieten, kam daraufhin mit "Europate" und Larissa in Kontakt, die Idee für ein Frauenhaus entstand. "Dann ging alles Schlag auf Schlag", sagt der 42-Jährige. Sie haben lediglich ein paar Matratzen organisieren können, bevor sie die Frauen abholten.
Mitten in der Nacht kamen die Familien in Aumühle an, "in einem fremden Land, in dem wir die Sprache nicht sprechen und keinen kennen", sagt Yulia. Sie seien zuerst sehr skeptisch geworden, aber als Jörg am nächsten Morgen Frühstück angeboten und einen Arzt für die Kinder geholt habe, "haben wir verstanden, dass uns keiner umbringen oder verkaufen will", sagt die 30-Jährige. Dabei bricht sie in schallendes Gelächter aus, das alle anderen im Raum ansteckt. Mit jedem Tag entspannten sich die Frauen ein wenig mehr. "Das hat man richtig gemerkt", findet Larissa. Auch die Männer und Verwandten, die in der Ukraine zurückgeblieben sind, seien erleichtert gewesen.
Mutter musste 19-jährigen Sohn in der Ukraine zurücklassen
Tanya, die einige Wochen später in Deutschland ankam, musste ihren Sohn zurücklassen, weil er "schon" 19 ist. "Eigentlich noch ein Kind", sagt seine Mutter mit brüchiger Stimme. Lange wollte sie selbst nicht gehen, doch der Krieg sei immer näher gerückt. Heftige Explosionen haben ihr Zuhause erschüttert, Männer seien auf offener Straße erschossen, Frauen und Kinder vergewaltigt worden. Tränen steigen ihr in die Augen. Ihr Sohn und ihr Mann drängten die Mutter dazu, mit der achtjährigen Tochter das Land zu verlassen. Inzwischen laufen Tränen über Tanyas Gesicht. Tröstend legt Larissa ihr eine Hand auf die Schulter.

Mit den langen, schlanken Fingern wischt Tanya sich über die Wangen. Sie sei dankbar, sich in der Gesellschaft von zwei Freundinnen zu wissen. Die Frauen geben sich gegenseitig Halt. "Ich fühle mich Zuhause", sagt Tanya mit leiser Stimme. Artem, der Sohn von Yulia, klettert auf den Schoß seiner Mutter, sie streicht ihm durch das kurze, blonde Haar. Dann dreht sie sich um und zeigt auf die mit Spielzeug gefüllten Kisten, die an einer Wand stehen. Über einen Aufruf von "Europate" haben zahlreiche Sachspenden das Frauenhaus erreicht. "So viele Spielsachen", sagt sie. "Die Kinder sind glücklich." Noch besser gefalle den Kindern – und auch den Frauen – die grüne Umgebung.
Natur lenkt die Mütter ab
Es gebe kaum Verkehr, die Luft sei rein und die Gerüche von frisch gemähtem Rasen sowie ausgedehnte Waldspaziergänge lenken die Geflüchteten zeitweise von der grausamen Realität in der Heimat ab. Dass sie zu jeder Tageszeit mit den Kindern nach draußen gehen können, ist keine Selbstverständlichkeit. Schon vor dem Krieg sei die Lage sehr angespannt und unsicher gewesen. Meist haben die Frauen nur in Begleitung ihrer Männer das Haus verlassen können, nach Einbruch der Dunkelheit gar nicht mehr. "Wir haben daheim doppelte Türen und müssen alles zehn Mal abschließen", erzählt Yulia. Irynas Vater habe ein Gewehr Zuhause. "Und ich ein Pfefferspray", sagt sie. In Aumühle fühlen sie sich sicher.
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"Hier schmeckt alles viel besser", sagt Tanya. Wie um ihre Worte zu unterstreichen, greift sie eine der mit Marmeladen gefüllten Teigtaschen. In Deutschland sei die Qualität der Lebensmittel höher. "Sahne, Milch, Apfelsaft und sogar Schokolade sind so lecker hier", zählt Yulia auf. DerSohn rutscht von ihrem Schoß und erklimmt wenig später mit seiner Schwester das große Sofa, das in einer Ecke des Wohnzimmers steht. Von dort hat man einen Blick auf die Terrasse und den Garten. Mehrere Holztische -und Bänke stehen dort, ein Sonnenschirm, ein Sandkasten, ein Kinderzelt. "Wir leben wie in einem Märchen", sagt Tanya.

Stets begegne man ihnen hier mit einem Lächeln, die Nachbarn grüßen sie auf der Straße. Das gebe den Frauen viel Kraft. "Wir haben noch nie so nette Menschen getroffen", ruft Yulia aus, wobei sie zu Larissa und Jörg blickt. Dem Verein "Europate" ist es wichtig, die Geflüchteten nach der Vermittlung auch weiterhin zu begleiten, die ersten Behördengänge mit ihnen zu erledigen und als Ansprechpartner rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen. Selbst wenn die Helfer dafür ihren eigenen Alltag komplett umkrempeln müssen.
Gemeinsame Essen bringen ein Stück Normalität
Larissa ist eigentlich freiberufliche Lektorin, Jörg Inhaber von "Elbfidelity", einem Geschäft in Hamburg, das Audio-, Video- und Smarthome-Lösungen von der Marke Burmester anbietet. Wie dankbar die Ukrainerinnen für die Unterstützung sind und dafür, dass der 42-Jährige sein Haus zur Verfügung stellt, betonen sie immer wieder. Die Mütter revanchieren sich regelmäßig mit Kaffee und selbstgebackenen Sahnetorten oder osteuropäischen Spezialitäten. Tanya und Iryna stehen auf und beginnen, in der Küche zu werkeln.

Yulia verschwindet kurz in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Jede der Frauen bewohnt einen eigenen Raum. Auf dem Bett der 30-Jährigen sind Kuscheltiere aufgereiht, die Kinder schlafen gegenüber in einem Hochbett, das an ein Piratenschiff erinnert. Eine der Wände haben die Kinder mit Farbe bemalt. Den Hausbesitzer stört das nicht. "Das sind Kinder, da bleibt es eben nicht ordentlich", sagt Jörg und grinst. Der Zustand seines Heims stehe in keinem Verhältnis zu dem Leid, das den Familien im Kriegsgebiet widerfahren sei.
Am Abend kommen die Sorgen hoch
Iryna und Tanya haben währenddessen eine Schüssel mit Krautsalat und an jedem Platz einen Teller mit überbackenen Kartoffeln platziert. Die Stimmung beim Essen ist losgelöst und unbeschwert. Jörg erzählt einen Witz, die Frauen lachen, nachdem die Dolmetscherin die Pointe übersetzt hat. Am ersten Tag fragten die Geflüchteten den Hausbesitzer, wie lange sie bleiben dürften. "Der Aufenthalt ist unbegrenzt", lautet seine Antwort nach wie vor. Das volle Ausmaß des Krieges war den Frauen damals noch nicht bewusst. "Wir verstehen bis heute nicht, wie das alles passieren konnte", sagt Iryna.

"Egal, wie sehr es uns hier gefällt – wir wollen trotzdem nach Hause", sagt Yulia. Mit ihrer Gabel schiebt sie langsam die Essenreste auf dem Teller umher. Der Appetit scheint ihr vergangen zu sein. Am Abend, wenn es dunkel wird, die Kinder schlafen und es keine permanente Ablenkung mehr gibt, kommen die Ängste hoch. "Geisterstunde", nennt es Larissa.