Neben Käse, Ketchup und Schimmel darf im Kühlschrank der klassischen Studenten-WG vor allem eines nicht fehlen: das Bier. Nicht zuletzt die Vorstellung des wilden, selbstbestimmten Studentenlebens lockt jährlich viele Abiturienten und Neuanfänger an die Uni. Letztes Jahr haben sich über eine halbe Million junge Menschen für ein Studium an einer deutschen Hochschule entschieden. Dabei spielt neben Vorlesungen und Hausarbeiten für viele auch das Drumherum eine wichtige Rolle: Bei den Eltern ausziehen, für sich selbst sorgen, tun, worauf man Lust hat. Zum Beispiel Alkohol trinken, wann und wo man will. Die Flasche Bier auf dem Mensa-Tablett ist genauso normal wie ein Schnäpschen nach der Klausur.
Alkoholkonsum: Studenten liegen deutlich vorne
Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist regelmäßiger Alkoholkonsum von 18- bis 25-Jährigen in der Gruppe der Studierenden am weitesten verbreitet. 29,7 Prozent der arbeitslosen jungen Erwachsenen und 26,3 Prozent der Schüler von Berufsschulen konsumieren regelmäßig Alkohol. Bei den Studierenden sind es ganze 37,3 Prozent - der Spitzenwert. Gerade bei ihnen kann das schnell zum Problem werden. Denn während übermäßiger Alkoholkonsum bei Mittvierzigern vom Umfeld kritisch beäugt wird, steckt die Gesellschaft den täglich trinkenden Studenten eher in die Schublade "man ist nur einmal jung". Dass auch Studenten eine Alkoholsucht entwickeln können, daran denken die wenigsten.
Professorin Marion Laging ist Leiterin des Bachelor-Studiengangs Soziale Arbeit an der Hochschule Esslingen und beschäftigt sich seit 2007 mit dem Alkoholkonsum von Studierenden. Studenten seien ihren Beobachtungen nach besonders anfällig für hohen Alkoholkonsum und neigen zum Rauschtrinken. Ein ganz simpler Grund für den hohen Konsum sind die vielen Trinkgelegenheiten im Studium. So gibt es zum Beispiel in Wohnheimen oder zum Semesterbeginn besonders viele Parties. Die Expertin betont aber auch, "dass Studieren mit erheblichem Stress und Belastungen verbunden sein kann, was nicht selten zum Alkoholkonsum verleitet." Studenten greifen also nicht nur aus Spaß zum Glas, sondern auch weil sie ernsthafte Probleme herunterspülen wollen.
Deutsche Hochschule entwickelt Präventionsprogramm
Unter der Leitung von Laging und ihrem Kollegen Professor Thomas Heidenreich entstand an der Hochschule Esslingen ein Forschungsteam. Während es einige Kampagnen gegen riskanten Alkoholkonsum gibt, die speziell auf Schüler und Jugendliche abzielen - zum Beispiel "Kenn dein Limit" von der BZgA - suchten sie in Deutschland vergeblich nach Programmen, die sich explizit an Studenten richten. Schließlich wurden sie in den USA fündig: Eine Universität in San Diego nutzt dort ein eigens entwickeltes Programm namens "eCheckup to go", ein webbasiertes, anonymes Präventionsnetzwerk für Studenten. Seit 2012 läuft die Zusammenarbeit zwischen der amerikanischen und der deutschen Hochschule. Das Team um Laging und Heidenreich passte das Programm an die Esslinger Studenten an - natürlich auch sprachlich, aber vor allem die kulturellen Voraussetzungen und Lebenswelten der deutschen Studenten unterscheiden sich von denen in San Diego.
Die Teilnehmer des Programms können sich online anonym anmelden und beantworten eine Art Fragebogen. Dadurch erhalten sie ein persönliches Risikoprofil, individuell auf sie angepasst. Das Programm klärt über die gesundheitlichen Auswirkungen des riskanten Alkoholkonsums auf, liefert ein personalisiertes Feedback zum jeweiligen Trinkverhalten und weist auf Grenzwerte des riskanten Alkoholkonsums hin. So liefert es dem Nutzer unter anderem Vergleichswerte, mit denen er einschätzen kann, ob der eigene Konsum im Vergleich zum Durchschnitt ungewöhnlich hoch ist. "Es bezieht aber beispielsweise auch Wechselwirkungen von Alkohol- und Nikotinkonsum mit ein und gibt Unterstützung im Umgang mit Risikosituationen durch bestimmte Strategien", so Laging. Teilnehmer lernen so mehr über ihren eigenen Alkoholkonsum und mögliche Risiken und sie erfahren, wo sie bei Bedarf Hilfe und Unterstützung finden.
Effektivität nachgewiesen
Um zu untersuchen, wie wirksam das Programm tatsächlich ist, haben die Wissenschaftler eine Studie erstellt. Dazu haben sie die Versuchspersonen zufällig zwei Gruppen zugeteilt. Nachdem alle Teilnehmer Angaben zu ihrem bisherigen Alkoholkonsum gemacht hatten, erhielt nur eine Gruppe Zugang zum Online-Programm "eCheckup To Go". Anschließend wurde der Alkoholkonsum beider Gruppen drei Monate nach Beginn und dann noch einmal nach sechs Monaten erhoben. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Teilnehmer, die "eCheckup To Go" genutzt hatten, konnten ihren Alkoholkonsum signifikant reduzieren. Ein halbes Jahr nach Beginn des Online-Programms haben sie ihren monatlichen Alkoholkonsum um durchschnittlich knapp fünf alkoholische Standardgetränke reduziert. Als Standardgetränk gilt dabei zum Beispiel ein kleines Glas Bier (0,25 Liter), ein Glas Sekt (0,1 Liter) oder ein Glas Schnaps (4 Zentiliter).
Mischung aus Online- und Offline-Angeboten
Das Konzept der Esslinger Hochschule findet aber nicht ausschließlich im Internet statt: "Unser Projekt basiert auf einer Verzahnung von Online- und Offline-Angeboten", erklärt Laging. Das "eCheckup to go" ist also nur ein Teil des Konzepts.
Zusätzlich können Studenten sich zu sogenannten Peer-Beratern ausbilden lassen. Sie sind dafür zuständig, ihre Kommilitonen auf dem Campus anzusprechen, das Online-Programm bekannt zu machen und "das Thema riskanter Alkoholkonsum unter Studierenden zu enttabuisieren." Die Wissenschaftler setzen auf Studenten, weil ein zwangloses Gespräch auf Augenhöhe wirksamer sei als der erhobene Zeigefinger eines vermeintlich allwissenden Experten. An der Hochschule Esslingen haben sich bisher 107 Studenten zu Peer-Beratern ausbilden lassen. Viele von ihnen konnten sich die Ausbildung, die zwei Semester dauert, für ihr Studium der Sozialen Arbeit anrechnen lassen. Dreimal pro Semester schwärmen sie aus, um die Studenten auf dem Campus anzusprechen und mit ihnen über Alkohol zu reden.
Einen dritten Pfeiler stellen hochschulinterne Angebote wie die zentrale Studienberatung oder die Seelsorge dar. Ein externes Beratungsnetzwerk mit psychosozioalen Suchtberatern komplettiert das Konzept der Esslinger Hochschule. Was besonders ist: "Das Netzwerk ist durchlässig, das heißt von jeder der vier Komponenten aus können die Studierenden auch auf jede andere Komponente zugreifen. So verweist zum Beispiel das Online-Programm bei entsprechenden Ergebnissen auf die Studienberatung oder Suchtberatungsstellen, wo dann mit den Ergebnissen von 'eCheckup to go' weitergearbeitet werden kann", erklärt Laging.
Fraglich war zu Beginn natürlich, ob das Konzept bei den Studenten überhaupt auf Interesse stößt und Anklang findet. Das kann Laging mittlerweile klar bejahen: "Seit April 2014 haben 713 Studierende der Hochschule Esslingen das Online-Programm absolviert."
Expansion des Programms an andere Unis
Der Erfolg hat sich herumgesprochen und nicht nur die Esslinger Studenten sollen vom Präventions-Programm profitieren. In Kooperation mit der Barmer-Krankenkasse wird das Konzept derzeit auch an zunächst fünf weiteren Hochschulen in Baden-Württemberg getestet. "Durch die Veränderungen im Setting müssen die Präventionsangebote natürlich auf die jeweiligen Bedingungen zugeschnitten werden - bei dieser Implementierung begleiten wir die Hochschulen", erklärt Laging. Bisher sei die Resonanz der teilnehmenden Hochschulen sehr positiv und weitere Hochschulen aus Baden-Württemberg sollen folgen.
Marion Laging betont, dass das von ihr und ihrem Team entwickelte Präventions-Konzept keinesfalls auf Abstinenz abziele. "Unser Ziel ist die Entwicklung von Risikokompetenz. Das bedeutet: Ein refklektierter und informierender Umgang mit Risiken. Der Ansatz ist nicht moralisierend und niemand erhebt den mahnenden Zeigefinger."
