Es klingt verrückt: Während die Sieben-Tage-Inzidenz Tag für Tag neue Höchstwerte erklimmt, die Zahl der Neuinfektionen die Omikron-Wand immer steiler anwachsen lässt und die Corona-Warn-App bei Hunderttausenden Menschen auf Dauer-Rot steht, lockern viele Länder in Europa ihre Corona-Maßnahmen. Und auch hierzulande nimmt die Debatte Fahrt auf, ob es nicht langsam genug ist mit Geisterspielen, 2G im Einzelhandel und Kontaktnachverfolgung in Restaurants. Lockern oder Abwarten? Es gibt für beides gute Argumente.
Wie ist die Ausgangslage?
Die nackten Zahlen ähneln einem Horrorfilm. Aktuell meldet das Robert-Koch-Institut (RKI) 236.120 Neuinfektionen binnen 24 Stunden, ein neuer Höchststand in der Pandemie. Die Sieben-Tage-Inzidenz erreichte mit 1283,2 ebenfalls einen neuen Rekordwert. Allerdings, und das ist eben der Unterschied zu den bisherigen Coronawellen: Das Gesundheitssystem ist weit von einer Überlastung entfernt. Die bundesweite Hospitalisierungsrate liegt bei 4,77. Derzeit werden laut Divi-Intensivregister 2307 Patienten auf Intensivstationen behandelt. Zu Corona-Hochzeiten in den Wellen zuvor waren bis zu 5500 Fälle auf Intensivstationen registriert. Man müsse ganz klar feststellen, dass das Gesundheitswesen im Augenblick "Gott sei Dank" überhaupt nicht überlastet sei, sagte der FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann im Sender ntv. "Im Moment sieht es gut aus", sagte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, der "Rheinischen Post".
Die Entwicklung verdeutlicht: Omikron ist tatsächlich äußerst ansteckend, sorgt aber in der Regel für milde Krankheitsverläufe.
Warum lockern unsere europäischen Nachbarn?
Kurz gesagt: Weil sie das Gefühl haben, es sich leisten zu können. Dänemark etwa argumentiert, dass Omikron das Gesundheitssystem nicht an seine Grenzen bringt. Was auch an der – im Vergleich zu Deutschland – hohen Impfquote liegt. Dort sind 81 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, 61 Prozent geboostert. In Deutschland liegen die vergleichbaren Quoten bei 74 bzw. 53 Prozent. Zudem gibt es insbesondere in der Altersgruppe über 60 noch zu viele Menschen, die überhaupt nicht geimpft sind.
Was sagt die Politik?
Viel. Und wieder mal viel durcheinander. Bundesjustizminister Marco Buschmann stellte die Rücknahme vieler Corona-Beschränkungen für März in Aussicht. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder wird da konkreter: "Wir sollten konsequente Öffnungsschritte jetzt angehen", fordert Söder heute in der "Bild". Und bringt die bundesweite Abschaffung der 2G-Regel im Handel, die Streichung der Testpflicht in Restaurants und eine Anhebung der Obergrenzen für Stadien ins Gespräch. Auch der designierte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai mahnt eine "Exit-Strategie" mit klar definierten Öffnungsschritten an. Noch weiter geht sein Parteikollege, der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki: "Wenn es keinen sachlichen Grund gibt, müssen die Maßnahmen enden, und zwar nicht zu einem bestimmten Datum, sondern sofort", sagte Kubicki dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland" Und ergänzte: "Wir sind wohl näher an diesem Punkt als viele meinen."
Das sieht der Bundeskanzler aber mal ganz anders. Er will erst den Scheitelpunkt der Omikron-Welle abwarten, den das RKI für Mitte Februar voraussagt. Erst nach diesem Höhepunkt könne es Entscheidungen über Lockerungsschritte geben, sagte Olaf Scholz im "heute journal". "Aber da sind wir leider noch nicht angekommen". Andere, wie etwa der Baden-Württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, sind noch vorsichtiger und stellen Lockerungen gar erst für die Zeit nach Ostern in Aussicht. Bis dahin sind es noch gut zehn Wochen.
In diesen Ländern werden die Corona-Maßnahmen gelockert

Was rät die Wissenschaft?
Wie auch in der Politik gibt es auch hier differenzierte Betrachtungsweisen im Hinblick auf mögliche Lockerungen. "Eine Exit-Strategie zu planen, um sie später bereitliegen zu haben, ist gut und vernünftig. Aber die Politik sollte nichts überstürzen", sagt der Virologe Friedemann Weber von der Universität Gießen. Max Geraedts, der das Institut für Versorgungsforschung und Klinische Epidemiologie an der Philipps-Universität Marburg leitet, widerspricht. Die Diskussion sende "viel zu früh" die Botschaft, dass die Pandemie schon vorbei sei".
Auch Deutschlands wohl bekanntester Virologe, Christian Drosten von der Berliner Charité, rät zur Zurückhaltung. Er sehe erst in den Osterferien eine zeitliche Schwelle und einen "Planungshorizont" für die Entspannung der Corona-Lage. Ganz anderer Meinung ist Drostens Kollege Klaus Stöhr, lange Zeit SARS-Forschungskoordinator bei der Weltgesundheitsorganisation WHO: "Ich kann es nicht mehr verstehen, dass man jetzt Ostern als Endpunkt der konservativen Maßnahmen sieht, so dass man sagt, wir können frühestens im April irgendwelche Lockerungen durchführen. Das passt einfach alles nicht mehr zusammen."
Womit wird die Zurückhaltung begründet?
Wie meist, wenn es um Deutschland geht, mit der unbefriedigenden Impfquote – insbesondere bei Menschen ab 60 Jahren ist sie gering. Hinzu kommt: "Noch immer sind viele Fragen rund um die Omikron-Variante offen. Daher rate ich zu Vorsicht", sagte der Virologe Friedemann Weber. Die Infektiologin Jana Schroeder (Stiftung Mathias-Spital, Rheine) warnt: "Je nach weiterer Entwicklung könnten möglicherweise sogar erst einmal weitere Einschränkungen sinnvoll sein", teilte Schroeder auf DPA-Anfrage mit. "Wir müssen eine gewisse Demut walten lassen bei all den Dingen, die wir bisher nicht über Covid-19 wissen, insbesondere durch Omikron." Sie verwies dabei zum Beispiel auf Long Covid, Folgen möglicher wiederholter Infektionen und die begrenzten Therapieoptionen.
Corona machte sie berühmt – das sind die Gesichter der Pandemie

Kann es tatsächlich noch zu einer Überlastung des Gesundheitssystems kommen?
Ausgeschlossen ist das nicht. Bisher grassiert Omikron besonders stark unter Kindern und Jugendlichen im Alter von 5 bis 14 Jahren und deutlich weniger bei Menschen ab 60 Jahren. Rund 3 Millionen Menschen über 60 sind noch ohne Impfschutz. Durch die zunehmende Omikron-Ansteckungsgefahr einerseits und die Zunahme der Wahrscheinlichkeit von schweren Verläufen bei Menschen hohen Alters andererseits könnte es durchaus noch zu einem Anstieg bei den coronabedingten Krankenhaus-Einweisungen kommen. Nicht nur die stationäre, auch die ambulante Versorgung könnte so überlastet werden, erst recht, wenn es zudem durch die hohe Infektionsrate noch zu einem Ausfall beim Pflegepersonal kommen sollte.
Ja was denn nun: Lockern oder nicht? Und wenn ja: Womit anfangen?
Wie so oft in den Diskussionen der letzten Monate ist die Antwort darauf letztlich Ermessenssache und muss von der politischen Führung gegeben werden. Vernünftig erscheint es dabei, den Blick allein auf das Infektionsgeschehen und die Fallzahlen im eigenen Land zu richten und sich nicht von den Beispielen mancher europäischen Nachbarn blenden zu lassen – so schwer das angesichts von maskenlosen Menschen in Kolding und Kopenhagen auch fallen mag. Dazu sind die Rahmenbedingungen hierzulande aufgrund der stockenden Impfkampagne einfach zu unterschiedlich.

Sinnvoll erscheint zudem eine Orientierung an konkreten Parametern. Doch statt auf die Inzidenz, die angesichts knapper PCR-Tests zuletzt kein realistisches Bild zeichnet, sollte man der Belegung der Krankenhäuser mit infizierten Patienten mehr Gewicht beimessen und Lockerungen erst dann ins Auge fassen, wenn diese Zahl kontinuierlich zurückgeht.
Aber man sollte die ein oder andere Maßnahme tatsächlich auf den Prüfstand stellen, so wie es Bundeswirtschaftsminister Christian Lindner (FDP) bei RTL ins Gespräch brachte. Lindner regte die die bundesweite Abschaffung der 2G-Regel im Einzelhandel, die Schleswig-Holstein und Hessen angekündigt und weitere Bundesländer aufgrund von Gerichtsbeschlüssen bereits umgesetzt haben, an. Die 2G-Regel richte wirtschaftlichen Schaden an, ohne dass sie einen wirksamen Beitrag zur Pandemiebekämpfung leiste. "Und deshalb ist 2G im Handel nicht erforderlich, die Maske ist es schon", so Lindner.
Auch aus Sicht des Virologen Weber bleibt das Tragen einer Maske essenziell: "Es ist eine relativ verträgliche, aber sehr effektive Maßnahme – insbesondere an sensiblen Orten, wie in Innenräumen, sollte man das Maskentragen beibehalten. Oder in Situationen mit vielen Ungeimpften."