Geschätzt vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an Depressionen. Doch die meisten Betroffenen reden nicht darüber, denn die Volkskrankheit will so gar nicht zu unserem Zeitgeist passen: Funktioniere, leiste - aber sei glücklich. Und das scheint leichter zu sein denn je, schließlich stehen uns heute schier unbegrenzte Möglichkeiten offen, um uns und unser Leben zu optimieren. Wer da unglücklich ist, ist geradezu selber schuld - und schweigt lieber.
Doch auch Hilflosigkeit und fehlendes Verständnis von Angehörigen, Ärzten und Apothekern dafür, was in Depressiven wirklich vorgeht, führt dazu, dass Betroffene ihre Krankheit lieber geheim halten und nur ihre Symptome behandeln lassen. Zu "Kopfschmerzen" oder "Schlafstörungen" gibt es nicht viel zu erklären. Sagt man: "Ich habe eine Depression", läuft man dagegen Gefahr, auf Unverständnis oder Vorurteile stoßen.
Was geht in Depressiven wirklich vor?
Dass den Betroffenen häufig selbst nicht klar ist, warum sie niedergeschlagen oder antriebslos sind, macht es nicht einfacher. Ein Trauerfall oder ein anderer Schicksalsschlag helfen, die Krankheit greifbarer zu machen - und sie zu akzeptieren. Fehlt dagegen ein sichtbarer Grund, wird das Unverständnis verstärkt. Vielen Betroffenen erscheint es daher einfacher zu sagen, sie seien innerlich getrieben oder litten an Burnout. Leistungsbereitschaft ist gesellschaftlich schließlich akzeptiert.
Aber Ausflüchte in Symptombeschreibungen und -behandlungen helfen Patienten nicht weiter. Ein Mittel gegen die Schlaflosigkeit oder Ausdauersport gegen die Getriebenheit wirken nur kurz als Linderung, letztlich halten sie die Depression aber am Leben. In einer Studie des Rheingold Instituts im Auftrag des Naturmedizinherstellers Pascoe gingen Psychologen daher der Frage auf den Grund, was in Depressiven wirklich vorgeht - und wie Angehörige, Mediziner und Pharmazeuten besser auf sie reagieren können. Dazu befragten sie 40 Patienten im Alter von 20 bis 60 Jahren, die an depressiven Verstimmungen oder Depressionen litten. In zweistündigen Tiefeninterviews wurden sie befragt, wie sie ihre Krankheit empfinden. Außerdem interviewten die Psychologen 22 Ärzte, zehn Apotheker und acht Pharmazeutisch-technische Assistenten dazu, was ihnen im Umgang mit Depressiven schwerfällt.
Die sechs Stufen der inneren Depressions-Logik
Zwischen den geschilderten Erlebnissen der Patienten konnten die Psychologen zahlreiche Gemeinsamkeiten ausmachen, die alle einer inneren Psycho-Logik mit sechs charakteristischen Zügen folgten. Diese Logik könne in Abgrenzung zu genetischen oder medizinisch-chemischen Betrachtungen zum Verständnis der Depression herangezogen werden sowie zur Entwicklung von Handlungsempfehlungen.
1. Hohe Ansprüche an sich und das Leben
Die befragten Betroffenen stellten alle sehr hohe Ansprüche an sich selbst und ihr privates und berufliches Leben. Im Beruf wollten sie durchstarten, aber gleichzeitig als Mutter ihren Kindern vollauf gerecht werden. Sie streben nach einem Lebensideal, das all diese Erwartungen vereint. Der Wille zur Perfektion trieb diese Menschen in die seelische Erschöpfung, so die Psychologen.
2. Wunsch und Wirklichkeit driften auseinander
Dass Anspruch und Wirklichkeit nicht immer eins sind, erlebt jeder mal. Depressive Patienten würden von dieser Diskrepanz aber regelrecht aus der Bahn geworfen. Klappt eine kleine Sache nicht, haben sie das Gefühl, dass sie gar nichts hinkriegen. "Ich weiß, dass es eigentlich Quatsch ist", wird ein Studienteilnehmer zitiert. "Aber ich kann das nicht anders denken." Doch auch eine ernsthafte Erkrankung oder der Verlust eines Menschen kann von diesen Personen als unerträgliche Belastung erlebt werden.
3. Stilllegung und Rückzug aus dem Alltag
Anstatt sich aktiv mit einem nicht erreichten Anspruch auseinanderzusetzen - durch Wut, Akzeptanz oder dem Verzeihen eigener Fehler - würden sich die Betroffenen wie stillgelegt fühlen. Ihnen sei es unmöglich zu trauern, schreiben die Wissenschaftler. Trauern ermöglicht aber, Abschied zu nehmen. Abschied von Mitmenschen, von der Vorstellung gesund sein zu müssen und letztlich auch von den eigenen Ansprüchen. Die unendliche Traurigkeit der Depression sei paradoxerweise in der Unfähigkeit zu trauern begründet, schreiben die Forscher. Die Stilllegung lässt sie dadurch doppelt leiden: Darunter, ihren Ansprüchen nicht mehr gerecht zu werden und im Alltag nicht mehr zu funktionieren.
4. Alles wird gleich wichtig oder unwichtig
Die Stilllegung wird verstärkt, indem unbewusst alle Impulse abgewehrt beziehungsweise "vergleichgültigt" werden. Alle Aufgaben und Reize des Alltags erhalten die gleiche Gültigkeit, die Betroffenen können daher nicht mehr priorisieren, was wichtig ist und was zuerst erledigt werden müsste. Sie denken sich: "Alles oder nichts", was sie selbst vor leichten Alltagsaufgaben kapitulieren lässt. Gleichzeitig können sie durch die Stilllegung ihren Anspruch aufrechterhalten, allem gerecht werden zu wollen.
5. Im eigenen Hamsterrad gefangen
"Jetzt reiß dich doch mal zusammen!" Angehörigen erscheint es häufig unverständlich, warum Betroffene so lethargisch sind. Doch der Stillstand ist nur ein äußerlicher. Innerlich läuft die Gedankenmaschine auf Hochtouren. Alles dreht sich nur noch um die eigenen Probleme, das Scheitern, das Nicht-Weiterkommen. "Eine gigantische Selbstintensivierung", so die Wissenschaftler. Die Welt mit ihren Problemen und Herausforderungen wird ausgeblendet. Die innere Getriebenheit raubt ihnen den Schlaf, trotz ständigen Grübelns kommen sie nicht weiter. Sie sehen nur noch sich und ihr eigenes Elend.
6. Resignation und Aufrechterhaltung der Depression
Sehr häufig würde die Energie der Betroffenen nicht in eine Veränderung investiert, sondern in einer Art Beweisgang: Die Umstände sind so schlimm, dass sie sowieso nichts ändern können. So dauerte es mitunter Jahre, bis Betroffene Hilfe aufsuchten, schreiben die Experten. Bis dahin behandelten sie nur ihre Symptome, etwa durch das Einnehmen von Schlaf- oder Beruhigungsmitteln oder durch berufliche oder sportliche Spitzenleistungen und Geschäftigkeit, um die innere Unruhe zu dämpfen. Das Festhalten an der niedergeschlagenen Stimmung zeige, dass die Depression ein unbewusster Versuch ist, das Selbstbild aufrechtzuerhalten: "Wenn die Umstände nur andere wären, dann würde ich ja…".
Wie Angehörige und Ärzte helfen können
Die Befragung der 40 Ärzte, Apotheker und der Pharmazeutisch-technischen Assistenten machte deutlich, dass sich viele von ihnen von depressiven Patienten überfordert fühlten. Häufig dauerten die Gespräche zu lange und würden von den Ärzten als grenzüberschreitend und fordernd erlebt. "Am liebsten werden Ärzte diese Patienten schnell wieder los", schreiben die Forscher. Ärzte spürten bei depressiven Patienten, dass sie in etwas hineingerieten, dass sie nicht direkt in den Griff bekommen.
Auch Apotheker hätten Schwierigkeiten damit, die Beschwerden der Patienten, die sich selten öffneten, richtig zu decodieren. Komme jemand aufgrund von Schlafstörungen zum Arzt oder Apotheker, so gehöre ein gewisses Verstehens-Gerüst dazu, um zu erkennen, dass es sich um ein Depressions-Symptom handelt, so die Studienautoren. Zur Sensibilisierung und zur Entwicklung individueller Behandlungsansätze halten die Wissenschaftler Fortbildungen und Schulungen für Ärzte und Pharmazeuten daher für unabdingbar.
Die Ergebnisse der Studie eröffneten einen Blick hinter die Kulissen, sagt Thomas Kirschmeier, Sprecher des Rheingold Instituts. Die herausgestellte Logik, nach der eine Depression funktioniert, könnte Angehörigen und Fachpersonal dabei helfen, künftig besser und schneller auf Betroffene zu reagieren. Folgende
Handlungsempfehlungen im Umgang mit Depressiven
hat das Psychologenteam entwickelt:
Motivieren Sie den Betroffenen, Pausen zu machen
Nichts ist der Depression zuträglicher als ein hektischer Alltag. Ständige Betriebsamkeit führt dazu, das Probleme einfach ausgeblendet werden. Helfen Sie den Betroffenen dabei, Momente zur Besinnung und Selbstreflexion in den Alltag einzubauen. Das können ausgedehnte Pausen, freie Tage oder Momente sein, in denen sich gelangweilt werden darf.
Nehmen Sie ihm den Druck, perfekt sein zu müssen
Es sei wichtig, den Betroffenen in seinem, Leiden ernstzunehmend und ihm gleichzeitig zu helfen, seine Ansprüche herunterzuschrauben. Ihm müsse vermittelt werden, dass die Akzeptanz und Anerkennung anderer nicht von der Erfüllung seiner selbstgesteckten Ziele abhängig ist.
Helfen Sie ihm, gefühlte Niederlagen anders zu kanalisieren
Helfen Sie dem Betroffenen, einen anderen und offensiveren Umgang mit erlebten Niederlagen zu entwickeln. Ermutigen Sie ihn, sich aktiv zu wehren oder Verluste und Niederlagen nicht einfach hinzunehmen, sondern zu betrauern. Überlegen Sie gemeinsam, ob die Probleme relativiert werden können: Ist das Erlebte wirklich so schlimm? Geht es anderen nicht genau so? Relativierungen helfen, den Gedanken "Ich krieg wieder alles ab!" aus dem Kopf zu kriegen.
Öffnen Sie den Blick für anderes
Für Außenstehende ist es häufig belastend, wenn Depressive nur um sich selbst kreisen. Hilfreich sei es, sich empathisch mit dem Betroffenen mitzudrehen, raten die Wissenschaftler, ihm aber auch dabei zu helfen, den Blick für anderes zu öffnen. Zeigen Sie ihm, was in seinem Leben alles schön ist. Die Depression sorgt dafür, dass gewisse Teile ausgeblendet sind. Sorgen Sie dafür, dass erfreuliche Momente wieder wahrgenommen werden.
Vereinbaren Sie kleine Schritte
Der Anspruch, schnell gesund zu werden, erzeugt häufig neue Einschränkungserlebnisse. Erwarten Sie nicht gleich das große Ding. Ein Spaziergang oder ein gemeinsamer Besuch einer Veranstaltung können schon erste kleine Schritte sein. Dinge, die für gesunde Menschen selbstverständlich erscheinen, sind große Aufgaben für die Betroffenen. Haben Sie Geduld und vereinbaren Sie kleine Schritte, die zu einer Behandlungsperspektive führen.
Brechen Sie das "Alles-oder-Nichts"-Prinzip auf
Was ist wirklich wichtig, was nicht? Damit der Betroffene den gefühlten Berg an unbezwingbaren Aufgaben aus dem Weg räumen kann, braucht er Hilfe bei der Priorisierung. Helfen Sie ihm zu überlegen, von welchen Aufgaben oder Ansprüchen er sich kurz- und langfristig verabschieden kann und will. Es gilt, das "Alles-oder-Nichts" Prinzip aus seinem Kopf zu kriegen.
Entwicklung ist ohne Scheitern nicht möglich
Es mag abgedroschen klingen, aber in jeder Krise steckt eine Chance. Nach einer schweren Trennung bleibt die Erkenntnis, dass dieser Typ Mann nichts für einen ist. Kauft man aus Versehen einen verschimmelten Joghurt, lernt man daraus, beim nächsten Mal auf das Haltbarkeitsdatum zu schauen. Für die Betroffenen ist es wichtig zu erkennen, dass jede erlebte Beschränkung eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung bietet, während Perfektion sie nur in die Erschöpfung treibt. Nur mit der "Erlaubnis", auch mal scheitern zu dürfen, können sie wieder Aufgaben übernehmen, ohne Angst vor der Verantwortung haben zu müssen.