Dienstag, 13.05.2003 SARS, mein Sohn und eine Stadt voller Bankräuber

Seit ein paar Monaten scheint "Warum" zum Lieblingswort unseres ältesten Sohnes Moritz geworden zu sein. Wie alle Dreijährigen stellt er pausenlos Fragen. Normal. Doch was antwortet man auf berechtigte Fragen über gar nicht mehr normale Zustände?

Seit ein paar Monaten scheint "Warum" zum Lieblingswort unseres ältesten Sohnes geworden zu sein. Moritz ist dreieinhalb Jahre alt und in Peking geboren. Er besucht einen chinesischen Kindergarten und spricht Chinesisch mit dem Akzent eines Pekinger Taxifahrers. "Besser als Du", lästern unsere Freunde.

Ich verweise dann immer darauf, dass Moritz aber nicht einen so schönen Satz sagen kann wie: "Der ehemalige Präsident Jiang Zemin war das Herz der Dritten Führungsgeneration der Chinesischen Kommunistischen Partei." Den beherrsche ich nämlich fließend. Trotzdem haben unsere Freunde Recht. Denn Moritz kennt Wörter wie Marienkäfer und Betonmischer, auf chinesisch. Die lerne ich von ihm und die sind wichtiger als das langweilige Parteichinesisch.

Über den Autor

Matthias Schepp, 39, arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt für den stern. Von 1992 bis 1998 berichtete er aus Moskau, 1999 eröffnete er das Büro des stern in der chinesischen Hauptstadt. Mit seiner Frau und den beiden Kindern Moritz (3) und Max (1) lebt er im Zentrum Pekings. Schepp, der in Mainz und Dijon Geschichte studierte, sagt von sich selbst: "Mich interessiert das Verhalten von Menschen in Krisen- und Umbruchzeiten. Das Ende des Kommunismus ist mein großes Thema. In Russland war es gleichsam ein Sekundentod, in Peking beobachte ich das langsame Sterben der Ideen von Marx, Lenin und Mao."

"Papa, warum ist Dein Bauch auf einmal so klein?"

Wie alle Dreijährigen stellt Moritz pausenlos Fragen, interessante, schwierige und manchmal solche, die mich und meine Frau zur Verweiflung bringen. Zu den interessanten, aber im Prinzip einfachen Fragen zählen:

- "Papa, warum darf ich nicht noch ein bisschen das neue Benjamin Blümchen-Video gucken?" Ganz einfach: "Weil vom vielen Fernsehglotzen die Augen kaputtgehen, es draußen schon lange dunkel ist und ich außerdem der Papa bin und Papa jetzt einfach sagt, dass du ins Bett gehst."

- "Warum hat Mama einen Busen und du nicht?" Ganz einfach: "Damit du und dein Brüderchen Max, als ihr beide noch ganz kleine Babys wart, Milch trinken konntet."

- Oder als wir am Samstag zusammen badeten: "Papa, warum ist Dein Bauch auf einmal so klein?"

Mein Sohn kann zwar in drei Sprachen parlieren, aber leider noch nicht lesen. Sonst hätte ich ihm einfach gesagt: "Ich schicke dir eine Mail aus meinem Büro auf unsere Home-Computer mit meinen SARS-Tagebuch-Eintrag vom 28. April "Warum SARS gut für meine Gesundheit ist". So aber erklärte ich, dass der Bauch verschwunden ist, weil ich lieber Treppen steige als Aufzug zu fahren. Es folgt eine wilde Spritzerei mit Wasserpistolen und Quietsche-Entchen. Glück gehabt, freue ich mich.

"Papa, was ist Peressigsäure?"

Drei Minuten später, Moritz war gerade von einer halbminütigen Tauchexpedition vom Wannenboden hochgeschnellt, schaut er mich mit großen Augen ratlos an: "Papa, warum willst du keinen Aufzug mehr fahren?" Ich sage: "Laufen ist gesund und macht Muskeln. Dann spiele ich besser Fußball." Dies leuchtet ihm sofort ein. Ich beglückwünsche mich und empfehle allen Pekinger Vätern dringend, niemals das Wort "Peressigsäure" in den Mund zu nehmen. Das wäre zwar ehrlich. Denn "Peressigsäure" soll SARS-Viren töten und wird deshalb von der Verwaltung unseres Plattenbaus in solchen Mengen in die Lifte gesprüht, dass selbst kerngesunde Menschen regelrechte Asthma-Anfälle bekommen. Deshalb laufe ich lieber. Dies ehrlich zu sagen, hätte unweigerlich eine weit gefährlichere Frage nach sich gezogen: "Papa, was ist Peressigsäure." Da müsste ich passen. In Chemie hatte ich eine Vier.

Im Umgang mit SARS, finde ich zudem, müssen Kinder nicht immer die ganze Wahrheit wissen. Es reicht, wenn sich die Erwachsenen verrückt machen (Lesen Sie bitte dazu meine Tagebucheinträge vom 9. Mai: "Die Kunst, an SARS zu sterben, ohne SARS zu haben" und vom 30. April: "Meine zehn besten SARS-Gerüchte").

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Alle Tagebucheinträge von Matthias Schepp

Wir beschlossen, vor den Kindern nicht über die neuesten SARS-Horrormeldungen zu reden

Gleich zu Beginn der Pekinger SARS-Hysterie, als unser Kindermädchen verspätet zur Arbeit kam, weil sie versuchte, in Supermärkten die letzten Tüten Nudelsuppe und in Apotheken die letzten Flaschen Desinfektionsmittel zu erhaschen, hatten meine Frau und ich beschlossen, am Tisch und vor den Kindern nicht über die neuesten SARS-Horrormeldungen zu reden. Dies ist leicht und hat nebenbei auch uns geholfen, nicht ständig um die Bedrohung zu kreisen.

Mir reicht es, wenn ich täglich mehrere Stunden zu SARS recherchiere. Deshalb meide ich in diesen Tagen auch jene Bekannten, die über nichts anderes mehr als die gefährliche Lungenseuche reden können. Ein bisschen Gottvertrauen, ein bisschen Glück, gesunder Menschenverstand, ein paar Vorsichtsmaßnahmen und ein Quäntchen Tapferkeit reichen aus, um mit SARS einigermaßen gut zu leben. Viel schwieriger sind die Fragen von Moritz. Mitunter läge SARS als einfache und schnelle Erklärung wirklich nahe.

- "Papa, wann endlich macht der Kindergarten wieder auf?", löchert mich Sohnemann jeden Morgen. "Du hast noch Ferien, das ist doch wunderbar", trällere ich. "Möchte der Papa auch mal haben."

Seit drei Wochen haben in Peking alle Unis, Schulen und Kindergärten geschlossen. Im Fall der Kindergärten ist dies übrigens keine Anti-SARS-Maßnahme, sondern seitens der Regierung dazu gedacht, die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern dadurch zu stärken, dass sie endlich mal genug Zeit mit dem Nachwuchs verbringen. Im realen Leben haben die Mütter und Väter, die trotz der Seuche fleißig ihrem Beruf nachgehen und gleichzeitig Kinder hüten, inzwischen Ringe unter den Augen.

Bei SARS-infizierten Kindern verläuft die Krankheit wesentlich leichter

Tatsache ist, dass unter den mehr als 2300 bekanntgewordenen Pekinger SARS-Kranken weniger als ein Prozent Kleinkinder sind. Tatsache ist auch, dass trotz weltweit mehr als 500 SARS-Toten bisher kein Kind an der Seuche gestorben ist. Wissenschaftler betonen, dass bei den wenigen SARS-infizierten Kindern die Krankheit wesentlich leichter verläuft. Dies kann gar nicht oft genug gesagt werden (Lesen Sie dazu den Tagebucheintrag vom 29. April: "Superstar - Der Deutsche SARS-Arzt Volker Klinnert").

Trotzdem fehlten in der Deutschen Schule von Peking beim ersten Tag nach den Ferien laut einem dpa-Bericht rund dreißig Prozent der Schüler. Wahrscheinlich haben die aus Peking geflohenen Eltern mehr Angst als ihre Sprösslinge. Mein Sohn jedenfalls sagt: "Ferien sind doof."

- Der Grund dafür erschließt sich unschwer aus einer weiteren Moritz-Frage: "Papa, warum sind auf dem Spielplatz im Park so wenige Kinder?"

Die Erklärung, dass die alle ganz brav in den Kindergarten gehen, fällt leider weg. Siehe oben. Also sage ich, dass sie mit ihren Eltern in Urlaub gefahren sind. "Wann fliegen wir nach Thailand?", will Moritz nun wissen. Ich antworte, dass das keine gute Idee sei, weil es dort ständig regne. Das ist nicht falsch, führt aber zur Frage, wann wir mal wieder ins Freibad gehen. Das kann Papa auch nicht sagen. Das weiß nicht einmal die chinesische Regierung, die wegen SARS alle Schwimmbäder und Sportclubs auf unbestimmte Zeit zusperrt.

"Schau mal, Moritz, Du hast das ganze Trampolin für Dich alleine", vesuche ich abzulenken. (Lesen Sie dazu den Tagebucheintrag vom 2. Mai: "Einsam in Peking"), "Na gut", brummt mein Sohn.

Die Kindergärtnerin will jeden Morgen die Körpertemperatur wissen

- "Papa, warum ruft die Kindergärtnerin jeden Morgen an und fragt nach meiner Körpertemperatur?", will der Kleine wissen. Ich antworte: "Sie freut sich, dass du gesund bist."

Frau Liu hat viel Grund zur Freude. Die Meldungen von der Fieberfront sind immer positiv. Wir wissen übrigens sicher von unseren chinesischen Nachbarn, dass die immer 36, 5 sagen, obwohl ihre vierjährige Tocher gerade mit einer heftigen Grippe im Bett fiebert und die ganze Nacht durchhustet. Darauf, ihren Sonnenschein in einer womöglich SARS-infizierten Klinik untersuchen zu lassen, haben sie keine Lust.

China ist eine Diktatur, aber Chinesen sind Anarchisten

Das zur Genauigkeit der chinesischen Statistik, das zur Effizienz der drakonisch-anmutenden Anit-SARS-Maßnahmen (siehe den Tagebucheintrag vom 7. Mai: "Eine misslungene Flucht aus Peking"). Und das zur Beruhigung derer, die immer von einer "allgegenwärtigen Diktatur" schreiben. Ja, China ist eine Diktatur, aber Chinesen sind Anarchisten, die sich einen Teufel um das scheren, was die Oberen von ihnen verlangen.

- In der vergangenen Woche dann stellte mein Sohn, der kleine Naseweis, die Frage, auf die ich schon lange gewartet hatte:

"Papa, warum haben die Leute alle eine weiße Maske auf dem Mund?" Die naheliegende Antwort wäre gewesen: "Damit sie nicht so viele Fragen stellen können wie du?" Aber das verkneife ich mir. Das hätte mir die Kritik meiner Frau und die Mißbilligung aller zehntausend Pädagogen eingetragen, die durch die Veröffentlichung nutzloser Erziehungsratgeber reich werden.

Überall Bankräuber mit weißen Masken

Zudem hatte ich mir eine wunderbare Antwort zurechtgelegt. Ich erinnerte Moritz an die Geschichte von den Bankräubern, die ich ihm kürzlich erzählt hatte. Auch sie hatten natürlich Masken getragen. "Ach so", nickte er. Gestern brachte mich Moritz in Bedrängnis, als er wissen wollte, ob die Mutter seines besten Freundes Donald denn auch ein Bankräuber sei. "Ähh", stotterte ich. Dann fiel mir eine Ausrede ein. "Nein, aber sie kommt gerade vom Zahnarzt." Mein Sohn ist keinesfalls überdurchschnittlich intelligent. Er ist nur besonders hinterhältig - so wie alle Dreijährigen.

Gestern hat er mich endgültig fertiggemacht. Erst fragte Moritz mich ganz unschuldig, warum denn Donalds Mama jeden Tag zum Zahnarzt müsse. "Weil sie zu viel Schokolade gegessen hat", triumphierte ich. Donalds Mutter aber hat ein strahlend weißes und kronenfreies Gebiss. Seitdem warte ich darauf, dass mein Lügengebilde zusammenbricht. Später dann, wir hatten uns gerade zum Abendessen versammelt, das Ende. "Papa, was eigentlich ist fei dian. Fei dian - das ist die chinesische Kurzform für SARS. "Eine Erkältung", murmele ich. Hätte ich auch gleich sagen können.

Matthias Schepp

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